Das neue Philosophenportal
Irrtumsermittlung die Grundlage unseres Wissensfortschritts ist. In unserer Suche nach
Wahrheit kommen wir deshalb nur weiter, wenn wir eine unbeschränkte öffentlicheDiskussion zulassen, die alle Überzeugungen auf den Prüfstand stellt. Meinungsfreiheit ist für Mill die Grundlage einer nie
abgeschlossenen Wahrheitsfindung und damit auch die Grundlage dafür, dass sich eine Gesellschaft die am weitesten fortgeschrittenen
Erkenntnisse zunutze machen kann. Die Erfahrung mit totalitären Gesellschaften, in denen Erkenntnisse und Forschungsergebnisse
aus ideologischen Gründen unterdrückt und dringende Reformen deshalb verschleppt werden, bestätigen Mill.
Die Freiheit, sein eigenes Leben zu führen und seine Individualität ungehindert zu entfalten, auch wenn dies in den Augen
der Gesellschaft als »ungebührlich« oder »exzentrisch« gilt: Dieses Anliegen Harriet Taylors übernimmt Mill in prononcierter
Form. Hatte Immanuel Kant noch im Sinne der Aufklärung gefordert: »Wage es, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen«, so
geht es Mill nicht nur um theoretische Mündigkeit, sondern um die lebenspraktische Selbstverwirklichung. Überall dort, wo
die Interessen anderer – sei es die von Individuen oder die der Gesellschaft – nicht berührt sind, soll der Einzelne freie
Entfaltungsmöglichkeit haben.
Mills Begriff der »Persönlichkeit« ist nicht nur von Goethe, sondern auch von den Schriften seines englischen Zeitgenossen
Thomas Carlyle beeinflusst, der den Wert großer Persönlichkeiten und die Bedeutung von Individuen mit außergewöhnlichen Fähigkeiten
herausstellte. Auch für Mill ist das Individuum – und nicht der Staat oder die Gesellschaft – der Ort der Kreativität. Deshalb
muss es auch im übergeordneten Interesse der Gesellschaft liegen, ausgeprägte Individualitäten zu ermöglichen und zu fördern.
Freie Gesellschaften fördern aktive und selbstbewusste Bürger, Despotien dagegen lassen Passivität und Duckmäuserei entstehen.
Ein warnendes und abschreckendes Beispiel ist für Mill die auf Konformität beruhende chinesische Gesellschaft.
Die Gesellschaft muss also einen Raum schaffen, in dem die verschiedensten Individuen ihre Kreativität entfalten können. Sie
muss, in anderen Worten, pluralistisch sein, also das Nebeneinander verschiedener Lebensformen ermöglichen. Statt für Einheitlichkeit,
Harmonie oder Konformität der Lebensformen plädiert Mill fürmöglichst große Vielfalt. Der Routine setzt er die Spontaneität, der Kopie die Originalität, der Stagnation das Experiment
entgegen. Möglichst viele »experiments of living«, also Erprobungen von Lebensentwürfen, sind nach Mill die Voraussetzung
dafür, dass sich eine Gesellschaft nach vorne bewegt. Diejenigen, die anders leben, sind keine Störenfriede, sondern das Ferment
einer lebendigen Gesellschaft. Jede gesellschaftliche Zensur privater Lebensentwürfe lehnt er ab. Über seinen Körper und Geist,
so Mill, hat das Individuum Souveränität.
Dies gilt, so Mill, auch für Frauen, die außerhalb der Ehe keine materielle Absicherung und innerhalb der Ehe keine Rechte
hatten und vom Mann wie ein Eigentum behandelt werden konnten. Mill hielt diese Zustände für skandalös und forderte die vollständige
Gleichstellung von Mann und Frau – eine Position, die er in seiner späteren Schrift
Die Hörigkeit der Frau
(1869) noch ausarbeitete und mit der er zu einem Vorreiter der Frauenemanzipation werden sollte.
Auch gegen die Annahme von »Pflichten gegen sich selbst«, wie sie Kant 1797 in seiner
Metaphysik der Sitten
begründet hatte, äußert Mill Bedenken. Solange der Einzelne nicht den Interessen der Gesellschaft zuwiderhandelt und nicht
den Lebensspielraum anderer verletzt, muss er in Ruhe gelassen werden. Wenn also ein Alleinstehender, der finanziell abgesichert
ist, seine Körperpflege vernachlässigt und zu trinken anfängt, so hat er noch keine Pflichten verletzt und der Gesellschaft
noch keine Rechtfertigung gegeben, einzugreifen. Legt jedoch ein Familienvater ein solches Verhalten an den Tag und vernachlässigt
er dadurch die Erziehung seiner Kinder oder nimmt öffentliche Sozialleistungen in Anspruch, so liegt eine Pflichtverletzung
vor, auf die die Gesellschaft mit sozialen oder rechtlichen Maßnahmen reagieren kann.
Mill war sich natürlich selbst im Klaren darüber, dass hier der Teufel im Detail steckt und dass es nicht immer einfach ist,
sich darauf zu
Weitere Kostenlose Bücher