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Tyrannei bedient sich nicht nur staatlicher Zwangsmittel, sondern auch des sozialen Drucks. In ihm sieht Mill einenoch größere Bedrohung. Denn er ist es, der in das Privatleben der Individuen eingreift, Möglichkeiten des Einzelnen, sein
Leben zu gestalten, verhindert und ihn zwingt, nach dem Modell der Mehrheit zu leben. Wie Tocqueville sieht er in den modernen
Massengesellschaften die Gefahr, dass die gesellschaftlichen Überwachungs- und Kontrollmöglichkeiten zu Ungunsten des Individuums
vergrößert werden.
Eine freie Gesellschaft ist für Mill deshalb nicht nur durch den Einfluss der Mehrheit, sondern auch durch den Schutz derjenigen
gekennzeichnet, die von der Mehrheit abweichen. Im Mittelpunkt dieses Schutzes steht die Freiheit des Individuums. Nur durch
ihre Verwirklichung ist die »Tyrannei der Mehrheit« wirklich zu verhindern. Mill formuliert deshalb ein Freiheitsprinzip,
das um das Individuum die größtmögliche Schutzmauer zieht. Es lautet: »Dass der einzige Grund, aus dem die Menschheit, einzeln
oder vereint, sich in die Handlungsfreiheit eines ihrer Mitglieder einzumengen befugt ist, der ist: sich selbst zu schützen.
Dass der einzige Zweck, um dessentwillen man Zwang gegen das Mitglied einer zivilisierten Gesellschaft rechtmäßig ausüben
darf, der ist: die Schädigung anderer zu verhüten.« Der Handlungsspielraum, den der Einzelne gegenüber der Gesellschaft besitzt,
kann nur durch den Handlungsspielraum der anderen begrenzt werden. »Die einzige Unabhängigkeit«, so Mill, »die diesen Namen
verdient, ist die Möglichkeit, unser eigenes Wohl auf unsere eigene Weise zu erreichen, solange wir nicht versuchen, andere
ihres Gutes zu berauben ...« Mit anderen Worten: Was keinem anderen schadet, ist erlaubt.
Mill verwehrt der Gesellschaft auch ein Recht, das sie in autoritären und halb-autoritären politischen Systemen gerne zur
Begründung ihrer »Schutzmaßnahmen« anführt: nämlich zum Wohl des Einzelnen gegen dessen Willen zu handeln. Es ist ein besonders
infamer Druck, der damit gerechtfertigt wird, dass er den »eigentlichen« Interessen des Individuums dient und zu seinem »Besten«
ausgeübt wird. In der Tradition der Aufklärung hält Mill demgegenüber an der Mündigkeit des Bürgers fest. Der Einzelne weiß
selbst am besten, was für ihn gut ist.
Kann aber diese sehr weit gefasste individuelle Freiheit dem Gemeinwohl dienen? Mill bejaht diese Frage. Je freier die Bürger,
so seine Überzeugung, desto mehr wird die Gesellschaft letztlich profitieren. Er unterscheidet dabei zwischen drei Arten von
Freiheit: der Meinungs- und Redefreiheit, der Freiheit, seine eigene Lebensform zu wählen, und der Versammlungsfreiheit, die
der Bürger in Anspruch nimmt, um seinen politischen Einfluss geltend zu machen. Es sind die ersten beiden Arten von Freiheit,
die im Mittelpunkt seiner Schrift stehen.
Die Meinungsfreiheit oder »Gedanken- und Diskussionsfreiheit« (»liberty of thought and discussion«), wie er sie nennt, umfasst
bei Mill nicht nur die »innere Freiheit«, eigene Überzeugungen zu bilden und diese in einem beschränkten Kreis ungehindert
zu äußern. Noch wichtiger für ihn sind die öffentlichen Äußerungsformen dieser Freiheit, z. B. in publizistischen oder wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Ein wesentlicher Nutzen der Meinungsfreiheit liegt nach
Mill darin, dass eine ausgeprägte öffentliche Streitkultur der Wahrheitsfindung und damit der Lösung von Problemen dient.
Mill stützt diese These mit drei Argumenten: Nehmen wir erstens an, eine gegensätzliche Meinung sei falsch. Dann sollte sie
geäußert werden dürfen, weil sie uns zwingt, bessere Argumente für unsere eigene Meinung zu finden und damit unseren Wahrheitsanspruch
öffentlich besser zu untermauern. Nehmen wir zweitens an, eine gegensätzliche Meinung sei wahr. Dann verdient sie erst recht
Gehör, weil sie uns vom Irrtum abbringt. Nehmen wir drittens an, verschiedene gegensätzliche Meinungen seien teilweise wahr
und teilweise falsch. Dann wird das Finden der Wahrheit durch die öffentliche Austragung von Argumenten in jedem Fall befördert.
Dahinter steht Mills Überzeugung, dass wir der Wahrheit nie endgültig habhaft werden, sondern lediglich hoffen können, bestimmte
Überzeugungen als falsch nachzuweisen. Er vertritt also einen »Fallibilismus«, wonach nicht der Beweis der Wahrheit, sondern
der Nachweis der Falschheit, also die
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