Das neue Philosophenportal
Instrument ihres Unglücks geworden. Die
Dialektik der Aufklärung
enthält den Offenbarungseid desFortschritts. Dessen Bilanz fällt vernichtend aus: »Die vollends aufgeklärte Erde«, so heißt es am Beginn des Buches, »strahlt
im Zeichen triumphalen Unheils.«
Horkheimer und Adorno liefern die Theorie zu einer These, die ihr philosophischer Weggefährte Walter Benjamin kurze Zeit zuvor
beim Betrachten des Bildes »Angelus Novus« von Paul Klee aufgestellt hatte. Klees »Neuer Engel« ist für Benjamin der »Engel
der Geschichte«, der die Folgen des menschlichen Sündenfalls besichtigt. »Er hat«, so Benjamin, »das Antlitz der Vergangenheit
zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer
auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen.
Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht
mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen
vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.«
Wie der »Angelus Novus« betrachten Horkheimer und Adorno das Trümmerfeld, das der Sturm des Fortschritts hinterlassen hat.
In Anlehnung an die Kritik des Kapitalismus bei Karl Marx beschreiben sie den Menschen als ein ausgebeutetes und geknechtetes
Wesen, das zu einer handelbaren Ware heruntergekommen ist. Deshalb sehen viele in der
Dialektik der Aufklärung
bis heute die brillanteste Form der marxistischen Gesellschaftskritik, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat.
Doch dieser Marxismus enthält einige reichlich unmarxistische Zutaten. Ganz im Sinne von Benjamin, aber im Gegensatz zur Fortschrittsgläubigkeit
der marxistischen Gründerväter Marx, Engels und Lenin, vertritt das Buch eine pessimistische Geschichtsphilosophie, die von
religiösen Untertönen begleitet wird. Nicht zufällig spielen Horkheimer und Adorno immer wieder auf das uralte Thema des Sündenfalls
und des verlorenen Paradieses an. Der eigentliche Sündenfall, von dem die destruktive Kraft des Fortschritts ihren Ausgang
nahm, fand für sie aber bereits vor dem Fehltritt Adamsund Evas statt. Denn schon die Figur eines Gottes, der mit Hilfe seiner Engel Herrschaft ausübt und den Menschen ein bestimmtes
Verhalten im Paradies verbietet, ist für sie Symptom einer auf Unterwerfung aufbauenden, gegen die Natur organisierten Zivilisation:
»Der Engel mit dem feurigen Schwert«, so schreiben sie, »der die Menschen aus dem Paradies auf die Bahn des technischen Fortschritts
trieb, ist selbst Sinnbild solchen Fortschritts.«
Dieser fehlgeleitete Fortschritt ist auch nicht durch die Forderung der Aufklärung, den Menschen mündig zu machen, in eine
richtige Richtung gelenkt worden. Im Gegenteil: Aus dem aufklärerischen Programm, so die These des Buches, ist eine neue Art
Knechtschaft entstanden. Die Aufklärung habe sich zum »totalen Betrug der Massen« gewandelt. Dabei sei sie nicht am Widerstand
ihrer Gegner gescheitert, sondern an den Tendenzen, die in ihr selbst angelegt waren. Genau dies meinen die beiden Autoren
mit »Dialektik«: eine Bewegung, die aus sich selbst heraus Kräfte und Entwicklungen hervorbringt, die ganz im Gegensatz zur
ursprünglichen Richtung dieser Bewegung stehen. Der Mensch war angetreten, um sich von den Fesseln der Naturkräfte und mythischen
Weltdeutungen zu befreien: In diesem Projekt, so Horkheimer und Adorno, war von vorneherein der Wurm drin. Der Mensch habe
sich zum Herrscher der Dinge aufschwingen wollen und sei in der Folge selbst zu einem beherrschten Ding geworden.
Die
Dialektik der Aufklärung
ist deshalb mehr als Gesellschaftsanalyse und Gesellschaftskritik: Sie ist umfassende Zivilisationskritik. Aus diesem Grund
setzen Horkheimer und Adorno ihre Akzente auch etwas anders als Marx. Wo dieser die ökonomische Ausbeutung des Menschen in
den Mittelpunkt gestellt hatte, schenken sie den kulturellen Äußerungen der Gesellschaft besondere Aufmerksamkeit.
Mit der Welt der Kultur waren Horkheimer und Adorno ohnehin sehr viel intimer vertraut. Beide entstammten dem Milieu des wohlhabenden
deutsch-jüdischen Bürgertums. Horkheimer, 1895 geboren, sollte ursprünglich die Baumwollfabrik seines Vaters in
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