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allem empirische Feldforschung und keine theoretischen Spekulationen – eine Auffassung, die Horkheimer und Adorno, die sich beide als Theoretiker der Gesellschaft verstanden, befremdete. Immerhin ging aus der
empirischen soziologischen Arbeit während des Exils die Studie
Autoritäre Persönlichkeit
hervor, die später im Nachkriegsdeutschland noch eine große Wirkung entfalten sollte.
In einem Aufsatz von 1937,
Traditionelle und Kritische Theorie
, erläutert Horkheimer, was Gesellschaftstheorie seinem Verständnis nach sein sollte. Das entscheidende Merkmal der Kritischen
Theorie sieht er darin, dass sie ihren Gegenstand, die Gesellschaft, nicht einfach beschreibt, sondern ihre Strukturen auch
im Sinne einer Befreiung des Menschen von Ausbeutung
deutet
. Es sind Strukturen, die von Menschen gemacht sind und damit veränderbar bleiben. »Die kritische Anerkennung der das gesellschaftliche
Leben beherrschenden Kategorien«, so schreibt Horkheimer, »enthält zugleich seine Verurteilung.« Die Kritische Theorie ist
also mehr als eine statistische Erhebung von Daten: Sie ist Gesellschaftskritik. Anders als der traditionelle Marxismus sieht
sie die Befreiung von Ausbeutung jedoch nicht mehr an die Aktivität einer bestimmten sozialen Schicht oder Klasse gebunden.
Die Kritische Theorie glaubt also, im Gegensatz zu Karl Marx, nicht mehr an die historische Mission der Arbeiterklasse.
Auch zur amerikanischen Unterhaltungs- und Medienlandschaft hatten die beiden Alteuropäer keinerlei Zugang. Vor allem Adorno
mit seinem strengen Verständnis von Kunst konnte sich überhaupt nicht mit dem Kino, der Musik des Jazz oder dem Varieté anfreunden.
Er sah darin ein Verdummungsspektakel für die Massen. Schon 1936 hatte er in einem Aufsatz
Über Jazz
die Jazzmusik als musikalische Konfektionsware charakterisiert, deren scheinbare Spontaneität in Wahrheit stereotypen Mustern
folgt. Durch diese Erfahrungen und Wahrnehmungen prägte sich der Begriff der »Kulturindustrie« aus, der in der
Dialektik der Aufklärung
eine so große Rolle spielen sollte.
1940 siedelte Horkheimer von New York nach Kalifornien um. Adorno folgte ihm kurze Zeit später. Die Gegenwart, auf die beide
blickten, gab keinerlei Anlass zu Optimismus. Der Zweite Weltkriegbefand sich auf seinem Höhepunkt und legte eine Spur der Zerstörung durch Europa. Freiheit, Demokratie und politische Selbstbestimmung
befanden sich überall in der Defensive: Die totalitären politischen Systeme des Faschismus und Stalinismus führten die Unterdrückung
des Menschen einem neuen Höhepunkt zu.
Vor diesem Hintergrund entstand, von 1941 an, im kalifornischen Exil das Manuskript der
Dialektik der Aufklärung
, eines der ganz wenigen Werke der Philosophiegeschichte, bei dem zwei Denker gleichberechtigte Autorschaft beanspruchen können.
Manche Teile diktierten beide Autoren gemeinsam Zeile für Zeile, andere wurden jeweils von Adorno oder Horkheimer alleine
geschrieben. 1944 schließlich war das Manuskript abgeschlossen.
Der Untertitel »Philosophische Fragmente« verweist darauf, dass die Autoren nicht den Anspruch erheben, ein ausgearbeitetes
philosophisches System vorzulegen. Der Begriff »Fragmente« trifft aber, streng genommen, nur auf den letzten Teil des Werks
zu, in dem unter dem Titel »Aufzeichnungen und Entwürfe« kurze Prosastücke zu unterschiedlichen Aspekten von Kunst, Gesellschaft
und Philosophie versammelt sind. Ansonsten handelt es sich um fünf größere Essays, die aus unterschiedlicher Perspektive die
negative Entwicklung der menschlichen Zivilisation analysieren.
In die
Dialektik der Aufklärung
fließen die unterschiedlichsten theoretischen Ansätze ein. Zahlreiche Begriffe und die oft sehr verschachtelte Sprache entstammen
der Tradition der Hegel’schen Philosophie, von der auch Marx geprägt war. Von Marx selbst wird vor allem die These übernommen,
dass in der modernen kapitalistischen Gesellschaft alle Beziehungen, sowohl die zwischen den Menschen als auch die zwischen
Menschen und Dingen, zu reinen Warenbeziehungen verkommen sind, die unter dem Gesetz des Tauschwerts stehen. Ergänzt wird
die marxistische Analyse durch Erkenntnisse aus der Psychoanalyse Sigmund Freuds. So hatte Freud die Formen analysiert, in
denen die menschliche Rationalität der Triebunterdrückung und Triebkontrolle dient. Horkheimer und Adorno übernahmen aber
auch Thesen des Soziologen Max Weber, der die Entwicklung der
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