Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
jeden Morgen gesehen. Mo wusste sehr genau, dass sie an der Party zu Lowell Lawrences siebzigstem Geburtstag nicht teilnehmen würden, aber es war nicht ihre Aufgabe, das mitzuteilen. Schließlich war Lowell sein Vater, gottverdammt noch mal! Dafür war er zuständig! Sie weigerte sich, die Drecksarbeit für ihn zu machen.
Rosie gab einen schauerlichen, durchdringenden Schrei direkt in Mos Ohr von sich– ihr üblicher Eröffnungszug, um Aufmerksamkeit einzufordern. Gleich würde ihr nächster Zug folgen, der darin bestand, mit ihren spitzen Fingerchen in Mos Gesicht zu greifen und ihr die Haut aufzukratzen.
» Schon gut, schon gut«, zischte Mo ihrer Tochter zu und schaukelte sie noch einmal auf ihrer Hüfte, um Zeit zu gewinnen. » Ich muss aufhören, Virginia. Wie du hörst, explodiert Rosie gleich.«
» Nun denn«, sagte ihre Schwiegermutter widerstrebend. » Aber ich bestehe darauf, dass Chad mich heute noch anruft.«
Besteh doch, worauf du willst, dachte Mo, als sie auflegte. Es wird allerdings rein gar nichts bringen.
Sie riss das Kinn hoch, um Rosies blitzschnellem Krallengriff nach ihrer Wange auszuweichen, und packte die kleinen Fäustchen ihrer Tochter, um weiteren Angriffen vorzubeugen. Derart ausgebremst stieß Rosie einen weiteren wütenden Schrei aus.
Mo starrte in die trüb-dunkelblauen Augen ihrer Tochter– ihre eigenen Augen. Chads waren wie die von Harry– braun mit goldenen Sprenkeln, was einen schönen Kontrast zu ihren blonden Haaren darstellte. Harrys und Chads Augen strahlten sanft. Ihre und Rosies dagegen leuchteten wie ein Gewitterhimmel.
» Du«, sagte sie zu ihrer Tochter, » bist eine Landplage.«
Bevor Rosie noch einmal kreischen konnte, wirbelte Mo mit ihr im Kreis herum. Harry hasste jede Bewegung, die schnell war oder ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Er hasste Schaukeln, duldete Wippen nur gerade so, und bei seiner ersten– und letzten– Karussellfahrt musste Chad zusteigen und ihn nach der Hälfte der Zeit herunterholen. Harry mochte Sandkästen, Eisenbahnen und Fernseher. Die bewegten sich nicht.
Rosie jedoch fing wie erwartet juchzend an zu krähen.
» Komm.« Mo stoppte das Herumgewirble. » Sehen wir mal nach, ob Harry schon aus dem Mittagsschläfchen aufgewacht ist. Dann gehen wir auf den Spielplatz.«
Und überbrücken mit etwas Glück so das Nachtmittagsloch bis zum Abendessen um halb sechs, und ein weiterer, langweiliger Tag neigt sich seinem Ende zu.
Mo gab sich alle Mühe, nicht auf die beleuchtete Digitalanzeige ihres Weckers auf dem Nachttisch zu schauen. Bis halb elf hatte sie vor dem Fernseher ausgeharrt und war dann zu Bett gegangen. Vor den Kindern wäre das früh für sie gewesen. Aber wenn sie jetzt irgendeinen Film, der nach neun anfing, zu Ende sehen wollte, musste sie ihn aufzeichnen. Bis sie sich einen DVD -Spieler zugelegt hatten, war so ein ganzer Stapel Videos entstanden, die hauptsächlich die letzte Stunde britischer Krimis enthielten. Diese Videos waren klar und deutlich mit Glitzerstift beschriftet, und als Mo sich nach einem miesen Tag hinsetzte, um herauszufinden, wer Roger Ackroyd nun wirklich ermordet hatte, und statt dessen Eli Manning mit einem Fünfzig-Meter-Wurf zum neuen Tight End der Giants sah, war Chad gezwungen gewesen, die komplette Box von Inspector Morse zu kaufen und alle dreiunddreißig Folgen mit ihr anzusehen.
An diesem Abend hatte Mo beschlossen aufzubleiben, weil ihr aufgefallen war, dass sie keine Ahnung hatte, wann Chad nach Hause kam. Ihr wurde klar, dass es irgendwann zwischen halb zehn Uhr abends, wenn sie normalerweise ins Bett ging, und sechs Uhr morgens sein musste, wenn Chad aufstand, um den Bus in die Stadt zu erwischen. Mo verstand nicht, warum Chad unbedingt mit dem Bus fahren wollte. In Charlotte hatte er immer den Wagen genommen, dabei waren es nur zehn Minuten Fahrt gewesen. Jetzt dauerte die Fahrt mit dem Golden Gate Transit vierzig Minuten. Zumindest morgens– wer wusste schon, wie er abends nach Hause kam!
» Warum fährst du nicht selbst?«, hatte sie gefragt.
» Ich mag Busfahren«, hatte Chad geantwortet. » Da kann ich während der Fahrt arbeiten.«
» Lachen dich deine Kollegen deswegen nicht aus?«
Chad hatte nur die Achseln gezuckt.
Mo kapitulierte und warf einen Blick auf die Uhr. Fünf nach halb zwölf. Sie spürte, wie eine Mischung aus Angst, Groll und purer Wut in ihrem Magen brannte. Was zum Teufel denkt er sich eigentlich?, schäumte sie. Wie soll er bei so wenig Schlaf noch
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