Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
wollte– hatte etwas unendlich Verlockendes. Ich muss ja nichts Alkoholisches trinken, sagte sie sich. Ich kann mich an Mineralwasser mit Limonensaft halten, eine Virgin Mary trinken, oder das am wenigsten eklige alkoholfreie Getränk auf der Karte.
» Das wäre toll«, sagte sie. » Kann Gulliver auf die Kinder aufpassen?«
» Ja, ja, ja!« Vor lauter Begeisterung klatschte Harry hüpfend in die Hände.
Gulliver zuckte die Achseln. » Klar. In Ordnung.«
» Jaaaa!«
» Ja, ja, ja«, echote Mo und griff nach der Hand ihres Sohnes. » Jetzt komm, du Groupie. Zeit fürs Mittagessen.«
Aishe sah ihnen nach. Gulliver blieb noch eine Minute bei ihr stehen, bevor er wieder reinging. Um sich zu seinem besten Kumpel zu gesellen, dachte Aishe verbittert. Sie wartete, bis Mo am oberen Ende der Straße um die Ecke verschwunden war, schloss in mieser Laune, die sie weder erklären wollte noch konnte, die Haustür und ging in die Küche zurück.
Es hob ihre Stimmung kein bisschen, dass dort nur Benedict wartete und mit wehmütigem Lächeln verkündete: » Deine neue Freundin sieht aus wie ein Filmstar aus den Dreißigern. Haare wie Louise Brooks und der Rest wie Clara Bow.«
Aishe riss die Tür des Geschirrschranks auf, nahm einen Teller heraus und knallte sie wieder zu. » Du stehst wohl auf Dicke, wie?«
» Ach, komm schon«, widersprach Benedict. » Sie ist doch nicht dick! Vielleicht dicker als du– aber du bist ja auch spindeldürr. Außerdem sagt das gerade die Richtige!« Aishe hielt inne und ließ langsam das Baguette sinken, das sie aus dem Brotkorb genommen hatte. » Was meinst du damit?«
Benedicts Gesichtsausdruck glich dem eines Alliierten, der, zehn Schritte zu spät, herausgefunden hatte, was das Schild mit der deutschen Aufschrift Achtung Minen! bedeutete.
» Nichts. Gar nichts.«
» Doch, allerdings.« Aishe senkte ihre Stimme zu einem gefährlichen Schnurren. » Also was?«
Dann begriff sie. » Ach so.« Sie knallte das Baguette auf den Teller und fing an, es auseinanderzureißen. » Du meinst Frank.«
Benedict sah sie verstohlen an, sie schien jedoch nicht beleidigt zu sein.
» Tut mir leid, dass er gestorben ist«, sagte er. » Er hat dir offenbar viel bedeutet.«
Aishe belegte ihr Baguette mit Käse und Salat und führte es zum Mund. Dann sah sie Benedict darüber hinweg an. » Wenn du meinst, mit deinen Heuchlerphrasen würdest du mich dazu bringen, über ihn zu reden, irrst du dich.«
» Wenn du meinst, aus meinem Mund käme nur Mist«, gab Benedict zurück, » warum lässt du mich dann deinen Sohn unterrichten?«
» Weil ich mir keinen echten Lehrer leisten kann.« Sie biss herzhaft in ihr Baguette.
» Na schön«, sagte Benedict. » Warum kündige ich dann nicht einfach?«
Aishe ließ sich Zeit, den Bissen zu kauen und hinunterzuschlucken. » Weil du dir das nicht leisten kannst«, erklärte sie dann. » Das kannst du in der nächsten Stunde als Beispiel für Ironie verwenden.«
Benedict starrte sie an.
» Was wäre nötig«, fragte er, » um dich dazu zu bringen, mich nicht wie den letzten Dreck zu behandeln?«
Über diese Frage musste Aishe erst einmal nachdenken. Bis vor Kurzem hätte sie keinerlei Schuldgefühle gehabt, jemanden– wie er es ausdrückte– wie den letzten Dreck zu behandeln. Es diente einem Zweck, nämlich dem, sich Leute, die sie nicht mochte, vom Hals zu halten. Aber in letzter Zeit schien sich einiges in ihrem Leben zu verändern. Im Gegensatz zu früher gab es Menschen darin– und sie hatte sie mehr oder weniger freiwillig hereingelassen.
Mo war der erste Mensch seit Frank, mit dem sich Aishe so etwas wie Freundschaft vorstellen konnte. Aber über Mo gab es Verbindungen zu ihrer Familie, die sie ein für alle Mal gekappt zu haben glaubte. Das fand Aishe immer noch zutiefst beunruhigend, aber solange sie den Kontakt zu Anselo begrenzte, war sie wohl auf der sicheren Seite.
Außerdem hatte Aishe eine leichte Veränderung in ihrem Verhalten festgestellt. Sie genoss Mos Gesellschaft und hätte auch nichts dagegen, sich nach all den Jahren einmal wieder mit Anselo zu unterhalten. Zumindest diesen beiden gegenüber konnte sie sich wohl erlauben, etwas weicher zu sein– zumindest ein ganz kleines bisschen. Aber konnte– sollte– sie das auch gegenüber Benedict? Er hatte sich als verlässlicher erwiesen, als sie je erwartet hatte. Langsam bekam sie den verstörenden Eindruck, dass die totale Verurteilung seines Charakters vielleicht ein wenig unfair
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