Das Niebelungenlied
an Fragen des Vorrangs, Siegfried wird auf der Jagd ermordet, die Leiche zu Kriemhild ins Bett geworfen. Die Spannung des Liedes wächst aber nicht allein aus der Fabel, sondern auch aus dem erheblichen Gefühlskonflikt Brünhilds, der auf eine bedeutende seelische Entwicklung verweist: Siegfried ist Brünhild vorbestimmt, sie liebt ihn, sie leidet unter dem Betrug, den man ihr antut, sie lacht schrill, als Siegfried ermordet ist, und tötet sich selbst, nachdem sie die Wahrheit, das Schwert zwischen ihnen, gestanden hat, denn ihr Leben ist sinnlos geworden. Es gibt auch ein Liebesbekenntnis von Siegfried und für beide einen gemeinsamen Scheiterhaufen; so unzuverlässig diese Einzelheiten sind, sie geben doch eine ungefähre Vorstellung vom Menschenbild jener Epoche. Die bezwingende Einheit eines tragischen Ereignisses und einer unerbittlichen, einzigartigen Sittlichkeit wird erst nach vier Jahrhunderten überlebt von den Anfängen der höfischen Zeit, als das jüngere Brünhildenlied entsteht, in dem die heroische Überlieferung dem neuen Weltverhältnis unterworfen wird. Hier ist Brünhild schon mehr das Kraftweib des Nibelungenliedes, das Schwert in der Brautnacht fehlt, der Geist der Erzählung ist spielmännisch, sie ist eine erotische Zweideutigkeit geworden. Der ethische und seelische Gehalt des alten Liedes ist vergröbert. Hierauf baut nun der erste Teil des Nibelungenliedes auf, der bis zu Siegfrieds Ermordung und Kriemhilds Trauer führt.
Der deutliche Einschnitt und Neuansatz der Handlung mit dem Beginn der zwanzigsten Aventiure, mit der Werbung Etzels um Kriemhild, ist zugleich der Übergang auf das andere Stoffgebiet: zur Burgundensage, die aus den geschichtlichen Anlässen von Attilas Tod und des Burgundenunterganges zusammenwuchs. Ein mittelrheinisches Burgundenreich mit den Namen der Könige ist bezeugt; König Gundahar und seine ganze Sippe fielen 437 im Kampf gegen ein Hunnenheer, dessen Führer damals allerdings nicht Attila war. Nach dieser Schlacht wurde der Rest des Volkes auf römischen Befehl in Südfrankreich angesiedelt, wo der Name der Landschaft bis heute von ihnen erhalten ist. Die Sage verband den Untergang der Burgunden aber mit dem Hunnenkönig Attila. Er starb 453 in seiner Burg, in der Brautnacht mit einem Mädchen namens Hildico. Er war betrunken; es war offenbar ein Blutsturz, aber dieser rätselhaft natürliche, plötzliche Tod und der germanische Name des weinenden Mädchens, das man am anderen Morgen fand, haben die Phantasie vieler Völker beschäftigt. Die Germanen nun glaubten hier an einen Gattenmord, der nach ihrem Denken aber nur als Verwandtenrache möglich war. So entstand im 5. Jahrhundert ein fränkisches oder gotisches Burgundenlied in stabreimenden Langzeilen: Attila, der eine Burgundin zur Frau hat, will sich den Besitz ihrer Brüder verschaffen, er lockt sie zu sich nach Ungarn und bringt sie um. Darauf tötet Kriemhild seine Söhne, setzt ihm ihre gebratenen Herzen als Mahl vor, tötet ihn selbst und setzt den Saal in Brand. Hier greift sehr bald, schon zwei Jahrhunderte später, eine Umformung ein. Denn das Bild eines grausamen und besitzgierigen Etzel vertrug sich nicht mit der Vorstellung, die im Sagenkreis um den Gotenkönig Dietrich von Bern von ihm entstanden war: die eines gütigen und großzügigen Etzel, der die Vertriebenenaufnimmt, ihnen Heimat gewährt und überhaupt alle ritterlichen Tugenden seiner fränkischen Standesgenossen besitzt. Diese spätgotischen Anregungen werden von den Langobarden in Oberitalien übernommen, gelangen nach Bayern, und dort entsteht zwischen dem 8. und 11. Jahrhundert ein jüngeres Burgundenlied, in dem Kriemhild statt Etzels zur Feindin der Burgunden wird, zur Rächerin Siegfrieds. Kriemhild schickt die hinterhältige Einladung, verlangt den Burgunden den Schatz ab, fordert Hagen zum Mord an Etzels Sohn heraus und zieht so Etzel in den Kampf hinein, und hier wird Hagen der herausgehobene Gegenspieler Kriemhilds. Auf dieser Erzählung baut dann um 1160 die sogenannte Ältere Nibelungennot auf, die uns, mit weiteren Personen ausgestattet, mit reicherer Entfaltung der Kampfszenen und im ganzen weiter ausgesponnen wieder die Thidrekssaga andeutet. Die christliche Wandlung des Menschenbildes ermöglicht es, nun die Gestalt Kriemhilds so umzuformen, umzudenken, daß an die Stelle der gesetzmäßigen Verwandtenrache die Gefühlsentscheidung der liebenden Frau tritt, sie hat sich aber noch im Nibelungenlied nicht völlig
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