Das Niebelungenlied
nicht allein um die Ausführung einer Fabel, die einmal bis zu einem gewissen verbindlichen Punkt erzählt worden ist, sondern eigentlich um das in ihr bedeutete unvermeidliche Schicksal. Er kann die Folgen aus dem Streit zwischen Kriemhild und Brünhild nur für unaufhaltsam und schicksalhaft ansehen; ihm kann nicht beikommen, daß er diesen unsinnigen Streit selbst arrangiert hat, weil die Burgunden untergehen müssen und ihr König sich nicht als Lügner und Betrüger zu erkennen geben möchte. Gewiß drängt es den heutigen Leser, in den Anlässen dieser Fabel und ihrem merkwürdig fahrlässigen Verhältnis zur Wirklichkeit, in der Mehrdeutigkeit des Zusammenhangs eine heimliche Kritik, eine Verdächtigung der ritterlichen Ethik durch den letzten Dichter zu vermuten; man sollte sich aber vergegenwärtigen, daß es nur einem heutigen Empfinden scheinen will, diese ganze schreckliche Entwicklung habe noch überall vernünftig zum Guten gewendet werden können, Siegfried habe nicht unbedingt sterben müssen. Die Voraussetzungen dieser Dichtung sind nicht die, die der heutige Leser macht.
Nur bei einer Ansicht von außen und mit großer Vorsicht wäre es möglich, dieser Dichtung Widersprüche abzulesen, die im gesellschaftlichen Verhältnis ihrer Zeit enthalten waren und zu seinem Untergang beitrugen, also in einer Dichtung als Problemstoff aktuell erscheinen konnten. Aber wenn die eine Absicht des letzten Dichters, nämlich der Überlieferung gerecht zu werden, eine in den Schichten verworrene Wirklichkeit hat entstehen lassen, so hat seine andere Notwendigkeit sie uns nicht gerade schärfer umrissen: die Notwendigkeit nämlich, seinem Publikum ein verklärtes Abbild des ritterlichen Lebens herzurichten. Zunächst ist sein Verhältnis zur erzählerischenAussage dem eines Dichters der heutigen Zeit weder in der sachlichen noch in der moralischen Eindeutigkeit zu vergleichen. Und dann ist sein Augenmerk allein auf den Hof und die von ihm ausgehenden Ereignisse gerichtet. Das politische Verhältnis der beschriebenen Gesellschaft ist feudal; die Herrschaft wird von einem König ausgeübt, der seinen Vasallen als Lohn für Kriegsdienst Land und Burgen zu Lehen gibt. Mitunter auch wird das Entgelt in Gold geleistet, dessen Herkunft und Geldwert bleiben aber unklar. Die Formen und die Verwaltung dieses Lehenssystems sind nicht angedeutet. Bei den Lebensverhältnissen hat der Dichter wohl überwiegend seine zeitgenössischen Umstände im Auge gehabt. Zwar erwähnt er die Landwirtschaft nicht, obwohl ihm die Verwüstungen im Sachsenkrieg ja nur in dieser Hinsicht erheblich sein können, nennt den Bauern nicht mit Namen, wir hören aber von einem Jäger, von Schmieden. Die Stadt Worms ist anscheinend nicht unbeträchtlich groß, sie hat einen Dom; ihre Einwohner erscheinen bei den bedeutenden Auftritten der Ritterschaft als Komparsen, als weinendes oder jauchzendes oder besorgtes Spalier. Es wird aber eine solche Menge von festen Gebäuden gerühmt, mit Waffen, Pferdegeschirr, Schmuckstücken, Tuchen wird ein so massenhafter Aufwand getrieben, daß wir für das Handwerk und für den Handel eine erhebliche Ausbreitung annehmen dürfen, sogar wenn wir die preisenden Übertreibungen sehr kritisch in Rechnung stellen. Aber die Erzeugnisse des Landes erscheinen eben nur auf dem Tisch oder im Gebrauch des Ritters, erst das Leben auf dieser Ebene ist erzählenswert, seine Stimmung der Freude soll bei jeder irgend ruhmwürdigen Gelegenheit vermittelt werden. Diese vreude ist etwa als begeisterte Bejahung des ritterlichen Lebens zu übersetzen, als immerwährendes Hochgefühl, sie bedeutet außer Glücksgefühlund Zufriedenheit auch noch die Unverbesserlichkeit solchen Lebens. Sie erscheint als würdige Gehaltenheit und heiteres Wesen in einem Alltag, der aus Jagdzügen, Frauenverehrung, kämpferischen Übungen und Wettspielen besteht, sie steigert sich bei der Aussicht auf Abenteuer, bei aller Art von festlicher Zusammenkunft wird sie überschwenglich beschrieben, ohne daß wir außer den Gastgeschenken, der Anwesenheit von Frauen und Alkohol genauere Einzelheiten erfahren; die Stimmung ist unübersetzbar. Die Frau, die Königin, ist der strahlende Mittelpunkt des höfischen Kreises, ihre Heiterkeit und Freigebigkeit ist ein wesentlicher Anlaß der Freude, während die Ritter in der Verehrung und Anbetung der Frau sich erhoben fühlen. Ein einziges Mal bricht die alltägliche Wirklichkeit des Frauendienstes herein mit Kriemhilds
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