Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
wachrufen.
Irgendwann war seine Mutter nach Hause gekommen. Sie war im Laden gewesen. Ohne ein Wort über Lorenzo zu verlieren, war der Freund nach Hause gegangen.
Er hatte die Schritte seiner Mutter gehört und ihr Rufen: Lorenzo?
Hier, Mama!
Wo bist du denn?
Hier! Hier, Mama! Hier!
Aber sie hatte ihn nicht gehört.
Wie lange hatte er zusammengekrümmt in dem Nachtschränkchen gesessen? Er erinnert sich, wie er sich aufs Atmen konzentriert hatte – ein und aus, ein und aus, in tiefen Zügen. Um ihn herum undurchdringliche Dunkelheit.
Lorenzo?
Mama!
Um den strengen Geruch der Mottenkugeln nicht so stark zu riechen, hatte er nur durch den Mund geatmet. Ein und aus. Ein und aus. Und mit der Faust gegen die Tür geschlagen, aber die Enge hatte keine kräftigen Schläge zugelassen.
Seine verzweifelten Rufe: Mama! Hier! Mama!
Auch seine Stimme war zu schwach gewesen. Die Rufe blieben eingesperrt wie er.
*
Sie haben ihn auf dem Sitz festgeschnallt, Hände und Füße mit Kabelbindern gefesselt und ihm eine Mütze über den Kopf gezogen. Sein Mund ist trocken. Die Zunge klebt am Gaumen. Er kämpft die ganze Zeit gegen die Panik und Klaustrophobie an, konzentriert sich aufs Atmen. Genau wie damals als Junge. Ein und aus. Ein und aus. Tiefe, regelmäßige Atemzüge. Ein und aus. Er denkt an Angelica. Haben sie auch sie?
*
Als seine Mutter ihn schließlich eingesperrt im Nachtschränkchen fand, war er nassgeschwitzt und halb bewusstlos. Er hatte in die Hose gepinkelt. Und sich übergeben. Seine Mutter hatte den Hausarzt gerufen.
Dem Jungen fehlt nichts, hatte der Arzt gesagt, er ist mit dem Schrecken davongekommen.
Mit dem Schrecken davongekommen …
Noch heute meidet er Aufzüge, wenn es sich einrichten lässt. Zuckt beim Geräusch einer Tür, die abgeschlossen wird, zusammen und bekommt in engen Räumen und Menschenmengen Atemnot. Manchmal wacht er nachts jäh aus Albträumen von engen dunklen Räumen auf – nach Luft ringend und mit hämmerndem Herzen.
Er fragt sich die ganze Zeit, wer sie sind. Die Mafia? Cosa Nostra? Es muss die Mafia sein. Camorra? Er begreift es nicht. Geht es um den Brief? Die Kopie haben sie doch schon gestern bekommen. Nur der Wortlaut ist wichtig. Warum müssen sie ihn dann auch noch entführen? Das muss ein Irrtum sein, sie haben den Falschen mitgenommen. So muss es sein. Er ist der Falsche. Er hat kein Geld. In seiner akademischen Welt gibt es keine Kontakte zur Mafia. Ein Irrtum. Das Ganze muss ein Irrtum sein. Ein Versehen. Ein dummer Fehler. Ein Missverständnis. Eine Verwechslung. Aber was tun sie, wenn sie den Fehler bemerken? Ihn erschießen? Gehen lassen? Werden sie ihn zurückfliegen, ihm den Staub vom Blazer bürsten und in aller Form um Entschuldigung bitten? Die Mafia entschuldigt sich nie. So viel hat er mitbekommen. Nie.
Und Angelica? Wo ist Angelica? Sie haben ihr doch hoffentlich nichts getan? Silvio? Mein Gott, sie werden Silvio doch nichts getan haben?
Vom Ruckeln des Helikopters wird ihm übel. Er denkt an seine Gefangenschaft in dem Nachtschränkchen, würgt, aber glücklicherweise kommt nichts. In der Dunkelheit der Mütze kneift er die Augen zusammen.
*
Er war Einzelkind, der Liebling seiner Eltern. Ein dürres Bürschchen, gut in der Schule, aber von Natur aus ängstlich. Große braune Augen. Dunkles Haar wie die Mutter. Am liebsten war er alleine. In seinem Zimmer. Zwischen den Spielen und Büchern, nur er allein. Draußen auf der Straße, mit den anderen Jungs, hatte er nichts zu melden. Er war nicht kräftig, war konfliktscheu, ging denen aus dem Weg, die ihn herumkommandierten. Sie nannten ihn Leseratte. Mamas Schätzchen. Ab und zu bezog er eine Tracht Prügel. Der Streber. Ein Talent. Seine Schulaufsätze waren fehlerfrei und wohlformuliert. In Geschichte und christlicher Religion, Mathematik und Physik zeichnete er sich aus. Als Teenager war er umschwärmt. Er war hübsch wie ein Erzengel, und die Mädchen fanden ihn geheimnisvoll und spannend.
*
Ich kriege keine Luft!, denkt er.
Der Helikopter fliegt eine jähe Kurve. Seine Schulter knallt gegen die Seitenwand. Unsinn!, redet er sich selber ein. Natürlich kriegst du Luft! Das ist nur eine Mütze! Trotzdem hämmert sein Herz wie wild. Kalter Schweiß bricht ihm aus. Er konzentriert sich, um die Angst zu vertreiben, wieder auf das Atmen. Ein, aus, ein, aus.
Der Pilot drosselt das Tempo. Der Helikopter schaukelt. Wie ein Boot auf den Wellen, denkt er. Sie setzen zur Landung an, hängen einen
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