Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
erhascht er einen kurzen Blick auf eine Berglandschaft. Wo bin ich? Wer sind diese Menschen? Irgendwo weint ein Kind. Ein Kind? Hier? Er denkt an Silvio. Wo ist sein Sohn? Geht es ihm gut? Mein Gott, das wird doch wohl nicht Silvio sein, der da weint? Nein, das kann nicht sein. So grausam können sie nicht sein.
Seine Zelle liegt am Ende des Korridors. Ein großer Raum. Bett, Kommode, Schreibtisch, Schrank. Solide Eiche. Ein großes Kruzifix mit dem sterbenden Jesus. Durchs Fenster sieht er eine Landschaft mit Bergrücken, Tälern und riesigen Waldflächen. Wo sind wir?, fragt er und tritt ans Fenster. Die Zelle liegt mehrere hundert Meter über der Erde. Eine Burg direkt am Rand einer Klippe. Wo sind wir?, wiederholt er seine Frage. Die drei Männer sind bereits auf dem Weg zur Tür hinaus. Warten Sie!, ruft er, doch die Tür fällt mit einem Knall ins Schloss. Dann wird der Schlüssel herumgedreht. Er läuft zur Tür und rüttelt an der Klinke. Abgeschlossen. Natürlich. Er geht zurück ans Fenster. Es ist wie ein Blick in die Vergangenheit. Kein Auto, kein Flugzeug. Nur die öde, verlassene Landschaft.
*
Angelica, denkt er. Die Königin von Norditalien. Seit fünfzehn Jahren kennt er sie. Dreizehn davon als ihr Ehemann. Sieben als Vater von Silvio. Sie haben sich in dem Orchester des Stadtteils kennen gelernt, in dem sie beide wohnten. Er spielte Querflöte, sie Oboe. Er kriegte sie nicht mehr aus dem Kopf. Warum Oboe?, hatte er gefragt. Warum nicht?, hatte sie geantwortet. Im Laufe der Minuten, in denen sie ihm ihre Begeisterung für die Oboe beschrieb, war er ihr verfallen. Die Sprödigkeit im Timbre, hatte sie gesagt, das Kokette und doch Ernste, der klare, durchdringende Klang, in dem eine unwiderstehliche Zartheit mitschwingt. Genau wie du, hatte er gedacht, als er dort saß und sie betrachtete, das Wechselspiel in ihren Augen bewunderte, das leise Erröten, als sie einsah, dass sie ihr Musikinstrument wohl etwas zu eifrig gelobt hatte. Warum Querflöte?, hatte sie gefragt. Mein Vater hat sie beim Kartenspiel gewonnen, als ich ein Junge war, hatte er geantwortet.
Eine bemerkenswerte Frau. Wie er war sie frisch geschieden und kinderlos, als sie sich kennen lernten. Er wusste so gut wie nichts über ihren Exmann. Ein Architekt aus Rom. Sie hatte keinen Kontakt mehr zu ihm. Sie war Kulturredakteurin der Florentiner Lokalausgabe des Corriere della Sera . Er stellte fest, dass er schon seit Jahren ihre Reportagen und Kommentare las. Ihr Autorenkürzel war ein Qualitätsmerkmal. Als sie heirateten und sie seinen Namen annahm, legte sie sich ein neues Kürzel zu: Amore . Angelica Moretti. Die Chefetage des Corriere della Sera hatte ihr mehrfach eine leitende Position in der Hauptredaktion in Mailand angeboten, aber sie hatte abgelehnt. Ihre Stelle als Kulturredakteurin in Florenz gab ihr eine Freiheit, die sie im hektischen Tagesbetrieb in Mailand hätte aufgeben müssen. Sie wurde immer häufiger zu Vorträgen und Podiumsdiskussionen eingeladen, zur Teilnahme an Radio- oder Fernsehsendungen. Sie hatte eine starke Wirkung, war geradlinig und aufrichtig. Eine Frau, der man zuhörte. Mehrere Parteien hatten erfolglos versucht, sie für die Politik zu rekrutieren, weil sie sie für ein politisches Talent hielten. Sprachbegabt, hartnäckig, aber immer mit einem offenen Ohr für andere. Sie äußerte sich im Fernsehen, scharfzüngig, nie oberflächlich. Doch für Angelica kam die Politik nicht in Frage. Sie hielt nichts von Politik, dem ständigen Spiel, den Kuhhandeln, der trügerischen Fassade.
Er selbst war Professor für Renaissance-Geschichte an der Universität Florenz und einer der ersten Medici-Experten. Mit den Jahren hatte er sein Fachgebiet um diverse andere Bereiche erweitert – theoretische Linguistik und Semiotik, später auch die Deutung von Handschriften und, mehr als Privatvergnügen, die Dechiffrierung alter Codes. Da er regelmäßig wissenschaftliche Artikel in anerkannten Zeitschriften nicht nur in Italien, sondern auch in Frankreich, Deutschland, England und den USA publizierte, ließ der Dekan ihn gewähren. Er wurde häufig vom italienischen Fernsehen interviewt und war derjenige, an den ausländische Fernsehsender sich wandten, wenn sie nach Florenz kamen, um Aufnahmen für Dokumentarsendungen über die Renaissance oder einen der vielen berühmten Künstler der Stadt zu machen. Die ihm eigene Kombination aus großem Allgemeinwissen und dem Talent, sich auszudrücken, hatte ihn zu einem
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