Das Nostradamus-Testament: Thriller (German Edition)
Kristallomantie als Quelle heiliger Offenbarungen. In der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (»Mormonen«) tragen die Mitglieder der obersten Präsidentschaft und des Kollegiums der Zwölf Apostel den Titel »Prophet, Seher und Offenbarer«. Der Ausdruck stammt von den Sehersteinen, auf die der Kirchengründer Joseph Smith sich berief, als ihn seine Offenbarung von Gott ereilte. Im Buch Mormon sind die Steine unter den Namen Urim und Thummim 6 erwähnt und waren laut der mormonischen Lehre »ein von Gott geschaffenes Instrument, um dem Menschen beizustehen, die Offenbarungen des Herrn anzunehmen«. Urim und Thummim sind keine mormonische Erfindung, bereits in den Büchern Mose 7 finden Urim und Thummim als heilige Steine Erwähnung. Die Hohepriester benutzten sie, um Antworten von Gott zu bekommen 8 . In einem Brief beschreibt Nostradamus folgende Technik, um Kontakt zu den Geistern aufzunehmen:
Nach neun aufeinanderfolgenden Nächten, von Mitternacht bis rund vier Uhr, mit einem Lorbeerkranz auf dem Haupte, einen Ring mit einem blauen Stein an meinem Finger, teilte mir der gute Geist eine Einsicht mit. Ich griff mir einen Schwanenfederkiel (dreimal verbot der Geist mir, den Kiel zu benutzen) und folgte seinem Diktat wie von poetischem Irrsinn erfüllt. Dann, an unseren ausgezeichneten Geist gewandt, fragte ich ihn, ob er mich – sowie seinen treuen Bérard, einen Alchemisten ohnegleichen – lehren wollte, wie man Gold herstellt und Schwefelkies reinigt und veredelt. So, den Hals mit Lorbeer- und Oleanderzweigen geschmückt, flehte ich meinen Schutzengel an, diese Transmutationen [Verwandlungen] durchzuführen und mich mit ehrlichen Orakeln zu inspirieren, kraft meiner Fürbitten an Jesus Christus, die Jungfrau Maria und meinen unsichtbaren Patron, den Erzengel Michael. 9
Unabhängig von der Technik, die man anwendet, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass die Kunst der Wahrsagerei eine der menschlichen Seele innewohnende Fähigkeit ist. Die Magie liegt nicht in der Kristallkugel oder dem Gegenstand verborgen, dessen sich das Medium bedient, sondern in der Seele des Mediums.
»Na, was sagen Sie?«, fragte de Garencières.
Ich versuchte – ohne Erfolg – meine Gegenargumente vorzubringen, indem ich behauptete, Nostradamus schriebe so vage, allegorisch und metaphorisch, dass man im Nachhinein alles Mögliche in seine Texte hineinlesen könnte. De Garencières schnaubte verächtlich. Er meinte, dass man sich nur demütigst dem Klarblick Nostradamus’ unterwerfen könne und dass meine Skepsis auf der fantasielosen Rationalität des modernen Menschen basiere. »Sie argumentieren haargenau so wie Professor Moretti!«, sagte er und blätterte in dem Stapel Papiere vor sich. »Hier können Sie seine Antwort lesen:«
Nostradamus kopierte das Orakel von Delphi
Von Professor Lorenzo Moretti
In der letzten Ausgabe von »Freunde des Nostradamus« (Nr. 6, Juni 2009) schreibt Theophilus de Garencières über die Weissagungsmethoden von Nostradamus. In der ersten Strophe in Les Prophéties schildert Nostradamus, wie er sich selbst in prophetische Trance versetzte:
Des Nachts sitze ich über geheimen Studien,
allein, auf bronzenem Taburett,
meine Einsamkeit geteilt nur mit einem zuckenden Flämmchen.
Seid gewiss dessen, was ich Euch weissage.
Estant assis de nuit secret estude,
Seul repousé sus la selle d’æ rain,
Flambe exigue sortant de solitude,
Fait proferer qui n’est à croire vain. 10
Die Prozedur, die Nostradamus hier beschreibt, basiert auf dem Zauberformelbuch De Mysteriis Aegyptiorum 11 . Dieses Buch, das okkulte Zauberformeln und magische Rituale enthielt, war im 16. Jahrhundert sehr populär. De Mysteriis Aegyptiorum beschreibt die Methoden der weissagenden Priesterinnen des Orakels von Delphi. Nostradamus hielt sich bis ins kleinste Detail an die Beschreibung. Bei Jamblichos können wir nachlesen, dass das Orakel von Delphi – exakt wie bei Nostradamus – die Götter auf einem Hocker sitzend empfängt, in göttlichem Licht, während sie mit heiligem Wissen erfüllt werden, also Visionen. Was zeichnet die Methoden der Pythia von Delphi aus? Sie saß auf einem dreibeinigen Schemel, kaute Lorbeerblätter und starrte in eine Schale mit heiligem Wasser aus der Kassotis-Quelle. Nostradamus hat diese Beschreibung einfach in Les Prophéties übernommen.
Die Priesterinnen, die im Orakel von Delphi dienten, hießen Pythia. Gut über tausend Jahre – vom achten Jahrhundert vor
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