Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
und würde uns dort erwarten. Das war eine Überraschung, aber eine noch größere erlebten wir, als wir ihn nicht allein im Wohnzimmer unseres Klienten antrafen. Neben ihm saß ein ernst blickender, unbeweglicher, dunkel wirkender Mann, der grau gefärbte Gläser trug und in dessen Krawatte eine große Freimaurernadel steckte.
»Das ist mein Freund Mr. Barker«, sagte Holmes. »Er interessiert sich auch für Ihre Angelegenheit, Mr. Josiah Amberley, doch haben wir unabhängig voneinander gearbeitet. Aber beide müssen wir Ihnen die gleiche Frage stellen!«
Mr. Amberley setzte sich schwer. Er witterte Gefahr. Das las ich aus seinen gespannten Augen und den zuckenden Zügen.
»Wie lautet die Frage, Mr. Holmes?«
»Nur: Was haben Sie mit den Leichen gemacht?«
Der Mann sprang mit einem heiseren Schrei auf. Seine knochigen Hände krallten sich in die Luft. Sein Mund stand offen, und für den Augenblick sah er wie ein entsetzlicher Raubvogel aus. Von einer Sekunde auf die andere bekamen wir einen Eindruck vom wirklichen Josiah Amberley, einem mißgestalteten Dämon mit einer Seele, die so verkrüppelt war wie sein Körper. Er ließ sich in seinen Sessel zurückfallen, schlug die Hand vor den Mund, als wollte er einen Husten ersticken. Holmes sprang ihm wie ein Tiger an die Kehle und drückte sein Gesicht zu Boden. Eine weiße Pille fiel aus dem keuchenden Mund.
»Kein kurzer Prozeß, Josiah Amberley. Alles muß den rechten Weg gehen und seine Ordnung haben. Was nun, Barker?«
»Ich habe einen Wagen vor der Tür«, sagte unser schweigsamer Mitarbeiter.
»Es sind nur wenige hundert Yard bis zum Revier. Wir werden zusammen hingehen. Sie können hierbleiben, Watson. Ich werde in einer halben Stunde zurück sein können.«
Der alte Farbenhändler hatte in seinem schweren Körper die Kraft eines Löwen, aber in Händen der beiden in solchen Situationen erfahrenen Männer war er hilflos. Er wand und drehte sich, doch sie schleppten ihn zum wartenden Wagen. Ich blieb allein zu meiner einsamen Nachtwache in dem Unglückshaus. Aber noch eher, als er angekündigt hatte, war Holmes in Gesellschaft eines schneidigen jungen Polizeiinspektors zurück.
»Ich habe Barker zurückgelassen, damit er sich um die Formalitäten kümmert«, sagte Holmes. »Sie kannten Barker noch nicht, Watson. Er ist mein verhaßter Rivale in Surrey. Als Sie von einem großen, dunklen Mann sprachen, war es für mich nicht schwer, das Bild zu vervollständigen. Auf seiner Habenseite stehen mehrere gute Fälle, stimmt’s, Inspektor?«
»Gewiß, er hat mehrere Male eingegriffen«, antwortete der Inspektor zurückhaltend.
»Er wendet irreguläre Methoden an, zweifellos, wie auch ich. Manchmal sind die Freischärler nützlich, das wissen Sie. Sie zum Beispiel, mit Ihrer obligaten Warnung, daß alles, was er sagt, gegen ihn verwandt werden kann, hätten diesen Schurken niemals derart täuschen können, daß er im wesentlichen ein Geständnis ablegte.«
»Vielleicht. Aber wir kommen auch ans Ziel, Mr. Holmes. Glauben Sie nur nicht, wir hätten uns nicht schon unsere Ansichten zu dem Fall gebildet und nicht die Hand auf den Mann gelegt. Sie können uns nicht verübeln, daß wir sauer werden, wenn Sie sich mit Methoden einmischen, deren wir uns nicht bedienen dürfen, und uns so den Erfolg wegschnappen.«
»Etwas der Art wird es diesmal nicht geben, MacKinnon. Ich versichere Ihnen, daß ich für meinen Teil mich von jetzt an in den Schatten zurückziehe; und was Barker anbelangt, so hat er nichts unternommen, als was ich ihm gesagt habe.«
Der Inspektor schien ziemlich erleichtert.
»Das ist sehr großmütig von Ihnen, Mr. Holmes. Ihnen kann an Lob oder Tadel wenig gelegen sein; wir sind da in einer ganz anderen Lage, wenn die Zeitungen uns Fragen zu stellen beginnen.«
»So ist es. Aber auf jeden Fall werden sie Fra
gen stellen, und so wäre es gut, wenn wir Antworten parat hätten. Was wollen Sie zum Beispiel sagen, wenn Sie von einem intelligenten, unternehmungslustigen Reporter nach den genauen Umständen gefragt werden, die Ihren Verdacht erregt und Sie schließlich zu der Gewißheit über die wahren Tatsachen gebracht haben?«
Der Inspektor blickte verwirrt drein.
»Es sieht aus, als würden wir die wirklichen Tatsachen noch nicht kennen, Mr. Holmes. Sie sagen, der Häftling habe in Gegenwart dreier Zeugen praktisch gestanden, seine Ehefrau und ihren Liebhaber ermordet zu
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