Das Notizbuch von Sherlock Holmes, Bd. 5
Patriarchen beschäftigt bin, der sich wahrscheinlich heute zuspitzen wird. Ich habe wirklich keine Zeit, mich nach Lewisham auf den Weg zu machen, auch wenn am Ort aufgenommene Beweise besonderen Wert besitzen. Der alte Bursche war ganz darauf versessen, daß ich komme, aber ich habe meine Schwierigkeiten erklärt. Er ist vorbereitet, daß ein Stellvertreter ihn besucht.«
»Das ist ja schön und gut«, sagte ich, »aber ich gestehe, ich sehe nicht, daß ich sehr dienlich sein kann. Dennoch bin ich willens, mein Bestes zu geben.« Und so geschah es, daß ich eines Sommernachmittags in Richtung Lewisham aufbrach, ohne zu ahnen, daß die Affäre, in die ich mich einmischte, binnen einer Woche zu heftigsten Debatten in ganz England führen würde.
Es war schon spät am Abend, als ich in die Baker Street zurückkehrte und über meine Mission berichtete. Holmes’ hagere Gestalt lag tief in seinen Sessel vergraben, aus seiner Pfeife stiegen Girlanden beißend riechenden Tabakqualms, und seine Lider sanken so träge über die Augen, daß er wie im .Schlafe aussah, doch bei jeder Stokkung oder fraglichen Passage meiner Erzählung kam er halb hoch, und zwei graue Augen, blitzend und scharf wie Rapiere, durchstachen mich mit forschendem Blick.
»Mr. Josiah Amberleys Haus trägt den Namen ›Der Hafen‹«, erklärte ich. »Ich dachte, es würde Sie interessieren, Holmes. Es wirkte wie ein ärmlicher Patrizier, der in die Gesellschaft seiner Untergebenen abgesunken ist. Sie kennen dieses Viertel, die einförmigen Ziegelsteinzeilen, die ermüdenden vorörtlichen Landstraßen. So richtig mittendrin, eine Insel ehemaliger Kultur und Behaglichkeit, liegt dieses alte Heim, umgeben von einer hohen, sonnenbestrahlten Mauer, flechtenbedeckt und oben mit Moos bewachsen, die Art Mauer…«
»Lassen Sie die Poesie weg, Watson«, sagte Holmes ungerührt. »Ich halte fest, es war eine hohe Backsteinmauer.«
»Genau. Ich hätte nicht erfahren, wo ›Der Hafen‹ , liegt, hätte ich nicht einen Müßiggänger gefragt, der auf der Straße rauchte. Es gibt einen Grund, ihn zu erwähnen. Es war ein großer, dunkler Mann mit schwerem Schnurrbart, wirkte fast militärisch. Er nickte als Antwort auf meine Frage und bedachte mich mit einem neugierigen Blick, an den ich mich wenig später wieder erinnerte.
Ich war kaum durchs Gartentor getreten, als auch schon Mr. Amberley die Auffahrt hinunterkam. Am Morgen hatte ich ihn nur flüchtig gesehen und doch den bestimmten Eindruck von ihm als einem sonderbaren Wesen gewonnen; aber als ich ihm bei Tageslicht begegnete, erschien er mir eher abnormal.«
»Ich habe ihn gewiß sehr genau betrachtet, aber Ihr Eindruck würde mich doch interessieren«, sagte Holmes.
»Er schien mir buchstäblich von Sorge niedergedrückt. Sein Rücken war krumm, als trüge er eine schwere Bürde. Trotzdem ist er kein Schwächling, wie ich erst angenommen hatte, denn Schultern und Brust sind wie für einen Riesen gemacht, wenn er auch auf spindeldürren Beinen daherstakt.«
»Linker Schuh faltig, rechter glatt.«
»Das habe ich nicht beachtet.«
»Nein, das haben Sie nicht. Mir ist sein künstli
ches Bein gleich aufgefallen. Aber fahren Sie fort.«
»Mich haben die sich schlängelnden grauen Locken frappiert, die unter dem alten Strohhut hervorquollen, und sein Gesicht mit dem grimmigen, heftigen Ausdruck und den tiefen Furchen.«
»Schon gut, Watson. Was sagte er?«
»Er begann die Geschichte seiner Nöte auszu
schütten. Wir gingen zusammen die Auffahrt entlang, und natürlich schaute ich mich gut um. Ich habe nie ein ungepflegteres Stück Land gesehen. Alles schießt ins Kraut. Es bietet ein Bild wilder Vernachlässigung, den Pflanzen ist es erlaubt, ihre Natur auszuleben, anstatt sich gärtnerischer Kunst zu beugen. Wie eine ehrbare Frau einen solchen Zustand dulden konnte, begreife ich nicht. Auch das Haus war im höchsten Grade verschlampt, aber der arme Mann scheint das selber zu wissen und Abhilfe schaffen zu wollen, denn mitten in der Halle stand ein großer Topf voll grüner Farbe, und in seiner linken Hand trug er einen dicken Pinsel. Er hatte am Holzwerk gearbeitet.
Er geleitete mich in sein schmutziges Allerheiligstes, und wir führten ein langes Gespräch. Er war natürlich enttäuscht, daß Sie nicht selber gekommen sind. ›Ich durfte wohl kaum erwarten‹, sagte er, ›daß eine so geringe Person wie ich, besonders nach diesem schweren
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