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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Kneifzange. Die richtigen Nummernschilder schob er in den Sportbeutel und reichte ihn Hope. »Vergiss nicht«, sagte er, »die wieder dranzumachen, bevor du den Wagen zurückgibst.«
    Hope nickte. Schon jetzt sah sie bleich aus.
    »Hör zu, ruf mich an, falls es Schwierigkeiten gibt. Ich bin nicht weit und …«
    »Du meinst, wenn’s Probleme gibt, hab ich die Zeit, einen Anruf zu machen?«
    »Nein, natürlich nicht. Na schön, ich pass auf mich selbst auf …« Er verstummte. Es gab zu viel zu sagen, aber keine Worte.
    Scott trat zurück. »Sally müsste um diese Zeit schon auf der Mautstraße sein.«
    »Dann fahr ich los«, meinte Hope. Sie warf die Sporttasche auf ihren Beifahrersitz.
    »Halte dich an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Wir sehen uns nachher.«
    Ihm kam der Gedanke, dass er
Viel Glück
oder
Pass auf dich auf
oder sonst etwas Beruhigendes sagen sollte. Doch er tat es nicht. Stattdessen sah er Hopes Wagen hinterher, als sie vom Rastplatz fuhr, und schaute auf die Uhr, um zu schätzen, wo Sally um diese Zeit war. Sie nahm eine Parallelstraße Richtung Osten. Für einen Tag Nummernschilder auszutauschen schien eine Kleinigkeit, doch als Sally ihnen beiden eingeschärft hatte, auf kleine, scheinbar unbedeutende Details zu achten, hatte sie gute Gründe gehabt. In dem Moment hatte er zum ersten Mal begriffen, dass alles, was er bis dahin in seinem Leben gelernt hatte, nicht das Geringste mit dem zu tun hatte, was er im Begriff war zu tun.
    Am Rande eines plötzlichen Anfalls von Feigheit kehrte Scott zu seinem Pick-up zurück und wappnete sich innerlich für seine Fahrt ins Ungewisse.
     
    Hope fuhr zu der Kreuzung, an der der Interstate Highway Richtung Nordost abzweigt. Sie hielt sich peinlich genau an Sallys Anweisungen und an die Geschwindigkeitsbeschränkungen, um auf ihrem Weg zu der Stelle, die Sally ausgesucht hatte, nicht unnötig Aufmerksamkeit zu erregen. Sie beschloss, am besten jeweils nur an den nächsten Schritt zu denken, sozusagen eine Strichliste abzuhaken.
    Sie strengte sich an, die letzten drei Punkte kalt analytisch zu betrachten.
     
    Das Verbrechen begehen.
Wegfahren. Zum Treffpunkt mit Sally.
Keine Spur hinterlassen
.
     
    Sie hätte einiges darum gegeben, Mathematikerin zu sein und das, was vor ihr lag, als eine Zahlenkette zu betrachten, die sichzu Theorien und Wahrscheinlichkeiten zusammenfügte. Sie wünschte sich, wie der Statistiker bei einer Versicherungsgesellschaft das Leben und die Zukunft von Menschen nach Effizienzgesichtspunkten hochzurechnen.
    Das war schlechterdings unmöglich. Also versuchte sie sich stattdessen in eine Art Zorn der Gerechtigkeit hineinzusteigern, der sich auf O’Connell und seine Familie entlud. Sie rief sich immer wieder ins Gedächtnis, dass der Weg, den sie eingeschlagen hatten, der einzige war, den er ihnen übrigließ und den O’Connell nicht vorhersehen würde. Wenn sie nur wütend genug war, dann würde sie vielleicht fertigbringen, was sie freiwillig auf sich genommen hatte.
    Jemand muss sterben, sagte sie sich, bevor er Ashley tötet. Sie sagte sich diesen Satz wie ein perverses Mantra mehrere Kilometer lang immer wieder vor.
    Hope dachte an Spiele, bei denen in den letzten Minuten vor dem Schlusspfiff alles in der Schwebe hing. Ein tiefer Griff in die verborgenen Kraftreserven der Athletin, der für den Bruchteil einer Sekunde reichte und über den Ausgang entschied. Als Trainerin hatte sie ihre Mädchen stets angehalten, sich den Moment vor Augen zu führen, in dem Sieg und Niederlage sich die Waage halten, so dass sie, wenn es unweigerlich so weit war, psychisch gewappnet waren und, ohne zu zögern, handeln konnten.
    Sie vermutete, dass dies hier ähnlich sein würde.
    Und so biss sie sich auf die Lippe und malte sich die kommenden Ereignisse so aus, wie Sally sie umrissen hatte, einschließlich Scotts Ortsbeschreibung. Sie stellte sich das heruntergekommene, verwahrloste Haus vor, den verrosteten Wagen, den Carport mit Maschinenteilen und Gerümpel. Sie glaubte zu wissen, was sie drinnen erwartete: das Chaos aus Zeitungen, Bier flaschen und Imbissresten, der schale Geschmack der Nutzlosigkeit.Und er würde da sein. Der Mann, der den Mann hervorgebracht hatte, der sie alle bedrohte. Sie wusste, dass sie sich, wenn sie ihm erst gegenüberstand, Michael O’Connell vor Augen führen musste.
    Sie sah vor sich, wie sie draußen wartete.
    Sie sah vor sich, wie sie eintrat.
    Sie sah sich Auge in Auge mit dem Mann, dem sie den Tod bestimmt

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