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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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hatten.
    Während ihre Gedanken wie ein Mühlrad im Kopf kreisten, fuhr sie Richtung Osten und wünschte sich, so tun zu können, als sei dies eine ganz gewöhnliche kleine Reise.
     
    Am Nachmittag war Sally bereits in Boston und parkte an der Straße gegenüber Michael O’Connells Haus, wo sie den Eingang gut im Blickfeld hatte. In der Hand hielt sie den Schlüssel, den Hope ihr gegeben hatte.
    Sie hatte sich auf dem Fahrersitz ganz klein gemacht, um so unsichtbar wie möglich zu sein, während sie die ganze Zeit glaubte, dass jeder im ganzen Block sie bereits gesehen, sich ihr Gesicht eingeprägt und ihr Kennzeichen aufgeschrieben hatte. Auch wenn sie wusste, dass diese Befürchtungen grundlos waren, konnte sie sich nicht davon lösen; ihre Ängste lauerten in ihrem Unterbewusstsein und drohten jeden Moment, die Kontrolle über sie zu gewinnen, und Sally gelang es nur mühsam, das zu verhindern.
    Sie wünschte sich, wie O’Connell mit der Dunkelheit vertraut zu sein. Das hätte ihr bei ihrer aller Vorhaben zweifellos geholfen.
    Wieder schüttelte sie den Kopf. Bis dahin war ihre einzige Rebellion, das einzige Mal, dass sie sich über die eng gesteckten gesellschaftlichen Normen hinwegzusetzen wagte, ihre Beziehung zu Hope gewesen. Sie kam sich absolut lächerlich vor.
    Eine Frau im mittleren Alter, aus dem gehobenen Mittelstand, verunsichert über ihre Gefühle zu ihrer Lebensgefährtin, hatte kaum das Zeug zu einer Gesetzesbrecherin.
    Und schon gar nicht zu einer Mörderin.
    Sie nahm ihr Notizblatt und versuchte, sich ein Bild davon zu machen, wo die anderen beiden jetzt waren. Hope wartete auf sie. Scott hatte bereits Stellung bezogen. Ashley war mit Catherine zu Hause. Und Michael O’Connell war hoffentlich in seiner Wohnung.
    Was hat dich nur geritten, als du dachtest, du könntest dir diesen Plan aushecken und es durchziehen?, stellte sie sich plötzlich zur Rede.
    Es
.
    Sie merkte, dass sie einen trockenen Hals bekam.
Es
beschrieb die Sache wohl kaum angemessen. Ein Mord. Ein vorsätzlicher Mord, ein Kapitalverbrechen. Ein so finsterer Plan, dass man in einigen Bundesstaaten dafür auf den elektrischen Stuhl oder in die Gaskammer kommen konnte. Selbst wenn mildernde Umstände anerkannt würden, konnte
es
ihnen immer noch fünfundzwanzig Jahre einbringen.
    Ashley nicht. Ashley würde nichts passieren.
    Im selben Moment blitzte ein anderer Gedanke auf: Ihrer aller Leben wäre ruiniert. Außer O’Connells. Er würde so weitermachen können wie bisher, und es gäbe wenig, was ihn daran hindern könnte, Ashley, oder falls ihm beliebte, einer anderen Ashley nachzustellen.
    Es wäre niemand mehr da, um sie zu beschützen.
    Sieh zu, dass es funktioniert.
    Sie schaute auf und sah, wie die Schatten über die Dächer krochen. Es geht los, dachte sie.
    Eine Woge der Freude fuhr ihm durch die Glieder, während er das Handy ans Ohr hielt, doch er zwang sich zur Ruhe, bis er die vertraute Stimme hörte.
    »Michael? Bist du dran?«
    Er holte heftig Luft. »Hallo, Ashley.«
    »Hallo, Michael.«
    Einen Moment lang schwiegen sie beide. Ashley musste einen Augenblick auf das Blatt starren, das ihre Mutter für sie vorbereitet hatte. Eine Art Skript, in dem sie die Schlüsselsätze dreifach unterstrichen hatte. Doch die Seiten schienen vor ihren Augen zu verschwimmen. Als es plötzlich still wurde, beugte sich Michael O’Connell ruckartig auf seinem Sitz vor. Der Anruf war wundervoll und schrecklich zugleich. Er sagte ihm, dass er dabei war zu gewinnen. Er konnte nur mühsam das Grinsen zurückhalten, das sich über sein Gesicht breitete. Sein rechtes Bein fing an zu zucken wie der Fuß des Schlagzeugers an der Basstrommel.
    »Es ist wunderbar, deine Stimme zu hören«, seufzte er. »Wie’s aussieht, versuchen so viele Menschen, uns auseinanderzubringen. Aber du weißt, das lasse ich nicht zu. Niemals.« Er lachte leise, bevor er fortfuhr: »Es wird ihnen nicht gut bekommen, dass sie dich vor mir verstecken wollen. Das hast du ja selbst gesehen, nicht wahr? Ich finde dich überall.«
    Ashley schloss einen Moment lang die Augen. Seine Worte fuhren ihr wie Splitter in die Haut.
    »Michael, ich hab dich immer wieder gebeten, mich in Frieden zu lassen. Ich habe alles versucht, um dir begreiflich zu machen, dass wir nicht zusammen sein werden. Ich will dich nicht. Kein bisschen.« Alles, was sie sagte, hatte sie ihm bereits früher gesagt. Ohne Erfolg. Sie erhoffte sich diesmal nichts anderes. Sie kam sich vor wie in einem

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