Das Opfer
Spaziergang.«
»Und danach?«, fragte Ashley.
Catherine sah auf ihre Liste. »Das ist dein großer Moment. Es ist der Teil, den deine Mutter dreifach unterstrichen hat. Bist du so weit?«
Ashley antwortete nicht. Sie war sich nicht sicher.
Sie schnappten sich ihre Mäntel und verließen zusammen das Haus. Auf den Eingangsstufen blieben sie stehen und blickten nach links und rechts. Ihnen schlug nichts weiter als die Ruhe eines reinen Wohngebiets entgegen. Ashley hielt den Pistolenkolben tief in der Parkatasche in der Hand und rieb mit dem Zeigefinger nervös am Abzugsbügel. Es machte sie betroffen, dass sie durch ihre Angst vor Michael O’Connell die Welt als eine einzige Bedrohung empfand. Die Straße, in der sie als Kind in all den Jahren gespielt hatte, in denen sie zwischen den beiden Häusern ihrer Eltern gewechselt hatte, hätte ihr eigentlich so vertraut sein müssen wie ihr eigenes Zimmer im Obergeschoss. Doch das war sie nicht. O’Connell hatte sie vollkommen verändert. Er hatte Ashley von allem abgeschnitten, was zu ihr gehörte: von ihrer Uni, ihrer Wohnung in Boston, ihrem Job und nun auch noch dem Ort, an dem sie aufgewachsen war. Sie fragte sich, ob ihm eigentlich bewusst war, wie genial seine Bösartigkeit war.
Sie berührte den Lauf der Pistole. Bring ihn um, sagte sie sich, denn das macht er sonst mit dir.
Catherine und Ashley gingen langsam die Straße weiter. Ashley wollte ihn aus seinem Versteck locken, falls er in der Nähe war. Nachdem sie die Hälfte der Straße hinter sich hatten, zog sie die Strickmütze ab. Sie schüttelte den Kopf und ließ ihr Haar über die Schultern fallen, bevor sie die Mütze wieder überzog. Zum ersten und einzigen Mal seit Wochen wollte sie unwiderstehlich sein.
»Geh nur weiter«, sagte Catherine. »Falls er da ist, lässt er sich blicken.«
So schlichen sie den Bürgersteig entlang, als sie von hinten einen Wagen heranfahren hörten. Ashley umklammerte die Pistole und merkte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte. Als das Geräusch näher kam, wagte sie kaum noch zu atmen.
Als der Wagen auf ihrer Höhe war, wirbelte sie herum, zog die Waffe heraus und grätschte die Beine, während sie in Schussbereitschaft in die Knie ging, wie sie es so gewissenhaft in ihrem Zimmer geübt hatte. Ihr Daumen glitt über den Sicherungshebel, dann zum Hahn. Sie atmete zwischen fast geschlossenen Lippen aus – zuerst ein Ächzen, dann ein angespanntes Pfeifen.
Der Wagen mit einem Mann im mittleren Alter hinter dem Lenkrad rollte an ihnen vorbei. Der Fahrer drehte sich nicht einmal zu ihnen um, sondern suchte angestrengt die Hausnummern auf der anderen Seite ab.
Ashley stöhnte auf, doch Catherine behielt einen klaren Kopf. »Du solltest diese Waffe wegstecken«, erklärte sie ruhig. »Bevor eine nette Hausfrau und Mutter sie in deiner Hand entdeckt.«
»Wo zum Teufel steckt der?«
Catherine antwortete nicht.
Sie gingen langsam weiter. Ashley war plötzlich die Ruhe selbst, gesammelt und bereit, ihre Waffe zu ziehen und alles mit einem Schnellfeuer als Antwort auf seine Fragen zu beenden. Fühlt es sich so an, wenn man bereit ist, jemanden zu töten? Doch der leibhaftige O’Connell war im Unterschied zu dem Gespenst O’Connell, das ihr schon so lange auf Schritt und Tritt folgte, nirgends zu sehen.
Als sie geduldig einmal um den Block gelaufen und zu Sallys und Hopes Haus zurückgeschlendert waren, murmelte Catherine: »Na schön. Wenigstens wissen wir jetzt, er ist nicht hier. Irgendwo muss er sein. Bist du bereit für den nächsten Schritt?«
Ashley glaubte nicht, dass irgendjemand die Antwort darauf wusste, bis er es versuchte.
Michael O’Connell befand sich an seinem behelfsmäßigen Schreibtisch in seinem dunklen Zimmer in den matten Lichtkegel seines Monitors getaucht. Er arbeitete an einer kleinen Überraschung für Ashleys Familie. In Unterwäsche, das nasse Haar nach dem Duschen glatt zurückgekämmt, hörte er laute Technomusik, die aus den Computerlautsprechern dröhnte, während seine Finger im Takt zur Musik über die Tasten eilten. Die Songs, die er sich anhörte, waren schnell, wie außer Kontrolle geraten.
Es war O’Connell ein besonderes Vergnügen gewesen, von einem Teil des Geldes, das ihm Ashleys Vater bei seinem jämmerlichen Bestechungsversuch gegeben hatte, den Laptop zu kaufen, nachdem Matthew Murphy seinen alten zertrümmert hatte. Jetzt arbeitete er hart an einer Reihe elektronischer Attacken, die, wie er annahm, für erheblichen
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