Das Opfer
Moment wurde ihm klar, dass der alte Mann sich eigentlich über den zerbrochenen Fernseher viel mehr hätte aufregen müssen. Das kann nur bedeuten, dass er mit einem neuen rechnet, dachte er.
»Wen hast du reingelegt, Junge? Weil nämlich jemand richtig Wut auf dich hat.«
»Wer behauptet das?«
Der alte Mann zuckte die Achseln. »Ich will nichts gesagt haben, ich weiß nur, was ich weiß.«
Michael O’Connell streckte sich. Das ergibt alles keinen Sinn, dachte er. Oder vielleicht doch.
»Alter, ich tu dir weh, wann begreifst du das endlich? Du bist alt und schwach, und ich werde dir große Schmerzen zufügen. Und jetzt sag mir endlich, wovon du redest!«, schrie er quer durchs Zimmer. Mit wenigen großen Schritten beugte er sich erneut über seinen Vater, der im Sessel sitzen blieb und grinste, während er sich fragte, ob er seinen Sohn lange genug festgehalten hatte, damit der mysteriöse Mr. Smith die entsprechenden Vorkehrungen treffen konnte, welche auch immer.
Nur wenige hundert Meter vom O’Connell’schen Haus entfernt entdeckte Hope in einer angrenzenden Straße einige alte, zerbeulte Autos und Pick-ups mit Harley-Davidson-Flügeln. Aus einem heruntergekommenen Haus im Ranch-Stil, das ein Stück von der Straße zurückgesetzt war, drang Licht, und sie hörte laute Stimmen sowie harte Rockmusik. Ein kleines Familientreffen, dachte sie. Bier und Pizza, mit Methamphetamin zum Nachtisch. Sie parkte den Leihwagen einen Meter hinter einem der abgestellten Fahrzeuge, so dass sie ohne weiteres als Besucher durchging.
So schnell sie konnte, zog sie sich den schwarzen Overall an, den Sally besorgt hatte. Sie stopfte sich eine marineblaue Kapuzenmütze mit Gesichtsmaske in die Tasche. Dann schlüpfte sie in OP- und anschließend in ein Paar Lederhandschuhe. Sie wickelte sich ein paar Lagen Isolierband um Hand- und Fußgelenke, so dass zwischen Overall und Handschuhen beziehungsweise Straßenschuhen keine nackte Haut freilag.
Sie warf sich den Rucksack mit der Pistole über die Schulter und machte sich im Laufschritt auf den Weg zu O’ConnellsHaus, wo sie dank ihrer Kleidung mit der Nacht verschmolz. Sie zog das Handy heraus und wählte Scotts Nummer.
»Ich bin da, ein paar hundert Meter entfernt. Wonach muss ich suchen?«
»Der Junge fährt einen fünf Jahre alten roten Toyota, mit Kennzeichen von Massachusetts«, sagte Scott. »Der Vater hat einen schwarzen Pick-up, der halb in einem Carport steht. Die einzige Außenbeleuchtung befindet sich an der seitlichen Nebentür. Da gehst du rein.«
»Sind sie noch …«
»Ja, ich hab gehört, wie drinnen etwas zu Bruch gegangen ist.«
»Sonst keiner da?«
»So weit ich sehe, nicht.«
»Wo sollte ich …«
»Zum Carport. Rechts. Er ist mit allen möglichen Motorteilen und mit Werkzeug übersät. Von da aus kannst du sie sehen, ohne gesehen zu werden.«
»In Ordnung«, meinte Hope. »Halte die Augen auf. Ich melde mich wieder.«
Scott legte auf. Er lehnte sich an die Seite der alten, baufälligen Scheune und starrte geradeaus. Es gab sehr wenig Licht. Keine Straßenlaternen in dieser ländlichen Gegend. Solange sich Hope im Schatten hielt,
ging es ihr gut
.
Er stockte. Die Vorstellung, dass es ihr
gutgehen
könnte, war absolut falsch. Keinem von ihnen würde es gut gehen, wurde ihm bewusst. Außer Ashley vielleicht, und sie war der ausschließliche Grund, weshalb sie das alles machten.
Wenn er in dieser entscheidenden Nacht schon vor Angst wie gelähmt war, fragte sich Scott, wie sollte dann erst Hope ihre Zweifel in den Griff bekommen, die schließlich jene Bühne, die sie alle drei miteinander errichtet hatten, als Einzige betreten musste?
Im Laufschritt und tief gebückt, mehr wie ein wildes Tier als die Athletin, die sie einmal gewesen war, durchquerte Hope den Gartenstreifen seitlich vom Haus und schlich sich zur Rückseite des Carports. Dort drehte sie sich um, ließ sich auf den Boden nieder und nahm sich einen Moment Zeit, um sich zu orientieren. Die nächsten Häuser waren mindestens dreißig, vierzig Meter entfernt auf der anderen Straßenseite.
Sie legte den Kopf an die Carport-Wand und schloss die Augen. Hope versuchte eine Art Bestandsaufnahme ihrer Emotionen, als könnte sie so diejenigen ausfindig machen, die ihr in den nächsten Minuten die nötige Kraft geben würden. Sie rief sich ins Gedächtnis, wie der tote Nameless in ihren Armen lag, und tauschte dabei den Hund gegen Ashley.
Der Gedanke machte sie hart.
Noch weitere eiserne
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