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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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Kraft schöpfte sie aus der Vorstellung, dass O’Connell sich auch an Catherine rächen könnte. Sie wusste, dass ihre Mutter nach Kräften kämpfen würde, doch bei einer solchen Auseinandersetzung hätte die alte Frau kaum eine Chance.
    Sie summierte sämtliche Gefahren, die ihnen allen drohten, und stellte die Gleichung auf. Dann versuchte sie, Zweifel und Unsicherheit zu subtrahieren. Was so logisch und eindeutig ausgesehen hatte, als sie zu dritt in ihrem behaglichen Wohnzimmer gesessen hatten, erschien jetzt falsch, pervers und vollkommen unmöglich. Ihr brach der Schweiß aus, und sie wusste, dass ihre Hände zitterten.
    Wer bin ich?, fragte sie sich.
    Kurz nach dem Tod ihres Vaters, da hatte es einen Moment gegeben, in dem sie richtig verängstigt war. Es ging nicht so sehr um die Angst, allein gelassen zu werden; vielmehr ging es um die Sorge, die Erwartungen, die er in sie gesetzt hatte, nicht erfüllen zu können. Sie versuchte sich einzuschärfen, ihr toterVater hätte sie genau da sehen wollen, wo sie jetzt war – den Kopf an den Schuppen gelehnt und in die Nacht getaucht, während ihr von unten die Feuchtigkeit in die Kleider zog. Er würde nachempfinden können, dass man, um andere zu beschützen, ein Risiko auf sich nahm. Er hatte immer gewollt, dass sie die Dinge in die Hand nahm, zum Guten wie zum Schlechten.
Du bist der Boss
, hörte sie ihn sagen.
    Hope hatte das Gefühl, in diesem Moment tatsächlich am Rand des Wahnsinns zu sein.
    Bewahre einen klaren Kopf, forderte sie sich auf.
    Sie streifte sich die Mütze über Kopf und Gesicht.
    Dann griff sie in den Rucksack und zog die Waffe aus dem Plastikbeutel. Sie legte den Finger um den Abzug. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben hielt sie eine Schusswaffe in der Hand. Sie wünschte sich, mit Waffen mehr Erfahrung zu haben, merkte jedoch zu ihrem Staunen, dass von dem stählernen Kolben eine unbekannte, beinahe berauschende Energie ausging.
    Hope rutschte bis zur Ecke des Carports und horchte auf die wütenden Stimmen im Haus, während sie den richtigen Moment abwartete.
     
    »Ich muss wissen, was los ist«, stieß Michael O’Connell hervor. Aus jedem Wort, das ihm über die Lippen kam, sprach der jahrelang angestaute Hass auf den Mann, der ihm gegenüber selbstgefällig in seinem Sessel wippte – und die Liebe zu Ashley. Er fühlte, wie sein Puls raste; ihm war fast schwindelig vor Zorn.
    »Was soll das Ganze eigentlich? Du kommst hierher und brüllst was von einem Mädchen, während du dir viel mehr Gedanken machen solltest, wen du da zur Weißglut gebracht hast«, entgegnete sein Vater und zerschnitt mit der Hand die Luft.
    »Ich weiß nicht, was du da faselst. Ich hab niemanden zur Weißglut gebracht.«
    Der alte Mann zuckte provozierend die Achseln. Michael O’Con nell machte einen Schritt nach vorn und ballte die Fäuste, während sich der Senior endlich aus dem Sessel hochrappelte und seinem Sohn die Schulter entgegenhielt. »Du meinst, du bist alt genug und stark genug, um es mit mir aufzunehmen?«
    »Das fragst du lieber nicht, alter Mann. Du hast einen Bierbauch und bist ein bisschen aus der Form geraten. Bald hast du vielleicht wirklich was am Rücken, nicht wie damals, als du nur simuliert hast. Du warst richtig gut, wenn’s darum ging, Frauen und Kinder zu verprügeln, und auch das ist schon ’ne ganze Weile her. Ich bin kein Kind mehr. Denk drüber nach.« Bei dem frostigen Ton zuckte der Alte zusammen. Dann schwellte er die Brust und schüttelte den Kopf.
    »Ich bin damals locker mit dir fertig geworden. Du meinst, du bist erwachsen geworden, aber ich würde dir immer noch raten, dich nicht mit mir anzulegen. Ich kann dich immer noch kleinkriegen.«
    »Du warst damals ein Schwächling und heute auch. Mom hat es mit dir aufgenommen. Wenn sie nicht betrunken war, konntest du sie nicht mal schlagen. So ist es schließlich passiert, nicht wahr? In der Nacht, in der sie starb. Sie war zu betrunken, um sich zu wehren. Du hast deine Chance gesehen und sie umgebracht.«
    Der Senior knurrte verächtlich.
    »Ich hätte nie für dich lügen sollen. Ich hätte den Cops von Anfang an die Wahrheit sagen sollen«, erwiderte Michael O’Con nell bitter.
    »Treib’s nicht zu weit«, antwortete der Vater kalt. »Halt dich aus Sachen raus, die dich nichts angehen.«
    Während ihre Worte leiser, aber hasserfüllter wurden, warensich die Männer auf ungefähr einen Meter näher gekommen und standen sich nun wie Hunde gegenüber, die jeden Moment

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