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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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gegenüber.
    »Wo ist sie?«, brüllte der Sohn und ballte die Fäuste. »Wo ist sie?«
    »Wo ist wer?«, erwiderte der Vater.
    »Ashley, verdammt! Ashley!« Er sah sich mit wilden Blicken um.
    Der Vater lachte spöttisch. »Also, das ist ein Ding, wirklich ein Ding.«
    Michael O’Connell wirbelte wieder zu ihm herum. »Versteckt sie sich? Wo hast du sie hingeschafft?«
    Der alte O’Connell schüttelte den Kopf. »Ich weiß immer noch nicht, was du da faselst. Und wer zum Teufel ist Ashley? Ein Mädchen aus deiner Highschool-Zeit?«
    »Nein, du weißt sehr wohl, wen ich meine. Sie hat dich angerufen. Sie sollte hier sein. Sie hat gesagt, sie ist auf dem Weg zu dir. Hör auf, mich zu verarschen, oder bei Gott …«
    Michael O’Connell schwang die Faust.
    »Oder du tust was?«, fragte der Vater in verächtlichem Ton.
    Der Alte blieb ruhig. Er nahm sich die Zeit, an einer Flasche Bier zu nippen, während er mit zusammengekniffenen Augen seinen Sohn anstarrte. Dann ging er bewusst zu seinem Polstersessel hinüber und ließ sich hineinfallen, um einen ausgiebigen Schluck aus der Flasche zu nehmen. Er zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht, was das Ganze soll, Junge. Ich hab keine Ahnung von einer Ashley. Du lässt dich jahrelang nicht blicken, dann rufst du plötzlich an, kommst her und schreist wegen irgend so ’ner Fotze rum, wie ein Grünschnabel an der Highschool. Du stellst mir Fragen zu Sachen, von denen ich nicht den blassesten Schimmer habe, willst dies und das wissen, ohne dass ich verflucht noch mal die leiseste Ahnung habe, was du meinst. Wieso köpfst du nicht ein Bier, beruhigst dich erst mal und hörst auf, dich wie ein kleines Kind zu benehmen?«
    Während er sprach, deutete er auf den Kühlschrank in der Küche.
    »Ich will nichts trinken. Ich will überhaupt nichts von dir – ich hab noch nie was von dir gewollt. Ich will nur wissen, wo Ashley ist.« Der Vater zuckte erneut die Achseln und breitete die Arme aus. »Ich weiß überhaupt nicht, von wem und von was die Rede ist. Du redest wirres Zeug.«
    Michael O’Connell kochte innerlich und zeigte mit dem Finger auf seinen Vater. »Du bleibst da sitzen, Alter. Bleib einfach da sitzen und rühr dich nicht vom Fleck. Ich seh mich um.«
    »Ich hab nicht vor, irgendwo hinzugehen. Du willst dich umsehen? Tu dir keinen Zwang an. Hat sich nicht viel verändert, seit du ausgezogen bist.«
    Der Sohn schüttelte den Kopf. »Doch, hat es«, sagte er bitter, während er auf dem Weg durch das kleine Wohnzimmer einige Zeitungen aus dem Weg trat. »Du bist um einiges älter und wahrscheinlich betrunkener, und der Saustall hier ist um einiges dreckiger.«
    Der Vater beäugte seinen Sohn misstrauisch, als der an ihm vorbeischoss. Er blieb in seinem Sessel sitzen, während der Jüngere die hinteren Räume betrat.
    Als Erstes ging er in das Zimmer, das einmal seins gewesen war. Sein altes schmales Bett war immer noch in die Ecke gequetscht, und ein paar von seinen AC/DC- und Slayer-Postern hingen immer noch an der Wand. Ein paar billige Sporttrophäen, ein altes Football-Hemd, das er an die Wand ge nagelt hatte, ein paar Bücher von der Highschool und ein leuchtend rotes Gemälde von einem Chevrolet Corvette nahmen den übrigen Platz ein. Er rannte durch das Zimmer und riss den Kleiderschrank auf. Er hatte tatsächlich halb damit gerechnet, Ashley darin zu finden, doch außer ein, zwei alten Jacken, die nach Staub und Schimmel rochen, sowie ein paar Kisten mit uralten Videospielen war er leer. Er trat gegen eine Kiste und verstreute den Inhalt quer über den Boden.
    Alles im Zimmer erinnerte ihn an etwas, das er hasste: was er war und wo er herkam. Er sah, dass sein Vater einfach viele der alten Sachen seiner Mutter aufs Bett geworfen hatte – Kleider, Hosenanzüge, Mäntel, Stiefel, ein paar bemalte Schachteln mit billigem Schmuck und ein Fototriptychon von ihm mit seinen Eltern, das bei einem ihrer wenigen Urlaube auf einem Campingplatz oben in Maine entstanden war. Das Bild rührte nur an schreckliche Erinnerungen: zu viel Alkohol, zu viel Streit und eine schweigsame Heimfahrt. Es war, als hätte sein Vater einfach alles, was ihn an seine tote Frau und seinen entfremdeten Sohn erinnerte, in dieses Zimmer geworfen, wo es Staub und den Geruch des Alters ansammelte.
    »Ashley!«, rief er laut. »Wo zum Teufel steckst du?«
    Aus dem Wohnzimmer rief sein Vater: »Du wirst da nix und niemand finden, aber such nur, falls du dich dann besser fühlst.« Dann lachte er –

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