Das Opfer
dass ich nichts machen konnte. Aber ich habe wirklich Glück gehabt. Ich wurde gegen diese Auffangdinger geschleudert, diese sandgefüllten Fässer oder was das ist, die den Aufprall abfedern.«
»Das Rad hat sich gelöst, sagen Sie?«
»Ja, so erklärte es der Trooper von der State Police. Man hat es vierhundert Meter weiter hinten auf der Straße gefunden.«
»So etwas höre ich zum ersten Mal …«
»Der Polizist auch. Außerdem war der Wagen fast brandneu.«
Scott zögerte, und für einen Moment herrschte Schweigen.
»Glauben Sie …«, setzte er an, brachte den Satz aber nicht zu Ende.
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, erwiderte Susan. »Eben noch flog ich den Highway entlang, und dann …«
Wieder sagte er nichts, und nach einer Weile flüsterte Susan: »Ich bin so schnell gefahren, weil ich Angst hatte …«
Jetzt war Scott hellwach. Während Susan Fletcher ihm im Einzelnen erzählte, was an dem Abend vorgefallen war, an dem sie sich mit Ashley getroffen hatte, unterbrach er sie kein einziges Mal. Er stellte keine Fragen, nicht einmal bei der Erwähnung von »Michael Zum Kotzen«, den einzigen Namen, an den sie sich erinnern konnte. In Susans Gedächtnis waren die Dinge ein wenig durcheinandergeraten, und mehr als einmal hörte er die Frustration heraus, wenn sie versuchte, Einzelheiten richtig wiederzugeben. Er schob es auf ihre leichte Gehirnerschütterung. Sie entschuldigte sich dafür, was Scott völlig überflüssig fand.
Sie wusste nicht, ob irgendetwas von dem, was ihr passiert war, mit Ashley in Verbindung stand. Sie wusste nur, dass sie sich mit ihr getroffen hatte und sie in Angst und Schrecken versetzt worden war, kaum dass sie Ashley zum Abschied umarmt hatte. Sie konnte von Glück sagen, dass sie noch am Leben war. »Glauben Sie, dass dieser Kerl, mit dem Ashley zu tun hatte, hinter all dem steckt, was Ihnen zugestoßen ist?«, fragte Scott, der keinen Zusammenhang sehen wollte, aber von einer Nervosität erfasst wurde, die er nicht recht beschreiben konnte.
»Ich weiß nicht, ich weiß es wirklich nicht. Wahrscheinlich reiner Zufall. Aber ich glaube«, sagte Susan, den Tränen nahe und fast im Flüsterton, »wenn Sie einverstanden sind, dann werde ich mich eine Weile nicht mit Ashley treffen. Bis ich mich wieder ganz erholt habe.«
Als Scott auflegte, überlegte er, dass es nur zwei Möglichkeiten gab: Entweder war da nichts oder das denkbar Schlimmste.
Wir sind füreinander bestimmt
.
Er versuchte zu schlucken, doch er hatte einen vollkommen trockenen Mund.
Ashley lief so zügig, als sollten ihre Füße auf dem Bürgersteig mit dem Ansturm ihrer Gedanken Schritt halten. Der Satz, dir folgt jemand, hatte in ihrem Kopf noch keine konkrete Form angenommen, doch in einem Winkel ihres Bewusstseins hatte sich das Gefühl festgesetzt, dass etwas nicht stimmte. Sie trug eine kleine Einkaufstüte mit Lebensmitteln in den Armen und den mit Kunstgeschichtsbänden berstend vollen Rucksack auf dem Rücken, und sie kam sich etwas merkwürdig vor, als sie immer wieder stehenblieb und die Blicke die Straße entlang schweifen ließ, um zu sehen, was sie so beunruhigte.
Sie konnte absolut nichts Ungewöhnliches entdecken.
Das ist eben so in der Großstadt, sagte sie sich. Zu Hause im westlichen Massachusetts war es ein bisschen übersichtlicher, und wenn etwas nicht stimmte, erkannte man leichter, was. Der ständige Menschenstrom, das pulsierende Leben in Boston dagegen überstieg ihre Fähigkeit, Veränderungen auszumachen. Sie begann ein wenig zu schwitzen, als hätte es plötzlich einen Temperaturanstieg gegeben, was sie irritierte, denn das Gegenteil war der Fall.
Sie ließ den Blick langsam über die Straße gleiten. Autos. Busse. Fußgänger, alles wie immer. Sie spitzte die Ohren. Dasselbe gleichmäßige Hintergrundrauschen, derselbe Alltagstakt. Sie rief jeden ihrer Sinne einzeln ab und stellte fest, dass keiner etwas wahrgenommen hatte, das die diffuse Angst, die sie wie schwache Stromschläge überfiel, hätte erklären können.
Und so ignorierte sie das Gefühl.
Sie lief im Eilmarsch weiter und bog von der Hauptstraße in die Seitenstraße ein, in der einen halben Häuserblock weiter ihr Wohnhaus lag.
In Boston unterscheiden sich die Wohnungen für Studenten deutlich von denen für Berufstätige mit eigenem Einkommen. Ashley gehörte noch zur studentischen Welt. Die Straße hatteein akzeptables Maß an Schäbigkeit, eine leichte Schmutzschicht, die ihr in jugendlichen Augen
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