Das Opfer
wieder zu trauen.
Die Fahrstuhltüren wollten sich gerade wieder schließen, doch Susan packte unvermittelt zu und hielt sie auf. Sie zwang sich, in den Lift zu steigen, und drückte die Drei. Als die Türen sich schlossen und sie alleine war, fühlte sie sich ein bisschen erleichtert.
Der Fahrstuhl ächzte an der Eins vorbei nach oben, bis er auf Ebene zwei plötzlich langsamer wurde und stehenblieb. Er ruckelte ein wenig, und die Türen gingen auf. Susan sah hoch und wollte schreien, brachte aber keinen Ton heraus.
Der Mann, der eben an ihr vorbeigeprescht war, stand vor der Tür. Dieselbe Jeans. Derselbe Parka. Doch jetzt hatte er die Skimütze zu einer Maske heruntergezogen, so dass sie nur seine Augen sehen konnte, die sich in sie bohrten. Sie warf sich an die Rückwand des Aufzuggehäuses. Sie hatte das Gefühl, von dem bloßen Druck, der von dem Mann wie eine Woge ausging, buchstäblich zu schrumpfen, ja beinahe zu Boden gepresst zu werden. Die Angst war wie ein Sog, der ihr die Füße wegriss, sie fortzuspülen und zu ertränken drohte. Sie wollte mit der Hand ausholen, sich verteidigen, doch stattdessen fühlte sichSusan vollkommen gelähmt. Es war, als würde der Mann hinter der Maske sie mit einem grellen Licht blenden. Sie schnappte nach Luft, um etwas zu sagen, ohne die geringste Ahnung, was; sie wollte um Hilfe rufen, brachte aber nichts heraus.
Der Mann hinter der Maske rührte sich nicht.
Er machte keinen Schritt nach vorn. Er starrte sie einfach an. Susan zwängte sich noch weiter in die Ecke und hielt sich mit letzter Kraft eine Hand vors Gesicht. Sie hatte das Gefühl, ihr Atem setze aus.
Immer noch tat er nichts. Er starrte sie an, als wollte er sich ihr Gesicht, ihre Kleider, den Ausdruck von Panik in ihren Augen ins Gedächtnis einbrennen. Dann flüsterte er:
»Jetzt kenne ich Sie.«
Dann setzten sich die Lifttüren plötzlich wieder in Bewegung und schlossen sich langsam.
Als ich sie diesmal anrief, hatte ich keinen drängenden Grund. Sie wirkte seltsam unbeteiligt, als hätte sie meine Fragen und ihre Antworten bereits im Geiste vorweggenommen und folgte nur noch einem fertigen Skript.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Michael O’Connells Verhalten richtig einordnen kann. Einmal denke ich, dass ich ein Gefühl für ihn bekomme, und dann …«
»… tut er etwas, das Sie nicht erwartet haben?«
»Ja. Die verwelkten Blumen, das ist eine klare Botschaft, aber …«
»Bereitet uns nicht manchmal das die allergrößte Panik, was wir auf uns zukommen sehen und verstehen, und nicht so sehr das Unbekannte?«
Das war nicht zu leugnen. Sie schwieg eine Weile, bevor sie den Faden wieder aufnahm.
»Demnach hat Michael sich nicht genau so verhalten, wie Sie es zunächst vermutet hätten. Sehen Sie nicht den Reiz, einfach Angst zu erzeugen?«
»Na ja, schon, aber …«
»Wenn man sich eben noch vollkommen hilflos fühlt und vor lauter Panik wie gelähmt ist und im nächsten Moment scheinbar von der Gefahr befreit …«
»Woher soll ich mit Sicherheit sagen können, dass es überhaupt Michael O’Connell gewesen ist?«, konterte ich.
»Das können Sie nicht«, antwortete sie. »Aber wenn der Maskierte im Parkhaus wirklich vorgehabt hätte, sie zu vergewaltigen oder zu berauben, hätte er dann nicht eins von beidem versucht? Die Umstände waren für beide Verbrechen ideal. Jemand mit einer ganz anderen Agenda dagegen benimmt sich ungewöhnlich und unberechenbar.«
Als ich nicht gleich antwortete, zögerte auch sie, als dächte sie über ihre eigenen Worte nach.
»Vielleicht sollten Sie nicht nur darauf achten,
was
passiert ist, sondern auch, welche Wirkung es hatte.«
»Meinetwegen, aber Sie müssen mir ein bisschen auf die Sprünge helfen.«
»Susan Fletcher war eine begabte, durchsetzungsfähige Frau. Sie war klug, vorsichtig, in vielen Dingen beschlagen. Trotzdem hat die Angst sie zutiefst verwundet. Eine solch abgrundtiefe Furcht kann verheerende Folgen haben. Angst ist eine Sache – der bleibende Schaden kann genauso erdrückend sein. In diesem Moment im Fahrstuhl hat sie sich verletzlich gefühlt. Machtlos. Auf diese Weise wurde sie wirkungsvoll daran gehindert, Ashley in den Tagen danach zur Seite zu stehen, wie sie es sonst getan hätte.«
»Ich glaube, ich verstehe …«
»Jemand mit diesen Talenten und dieser Durchsetzungskraft wäre Ashley eine ganz große Stütze gewesen, und deshalb wurde sieunschädlich gemacht, aus der vordersten Linie verdrängt. Auf
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