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Das Opfer

Titel: Das Opfer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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unheimlichen Typen ihr zugesetzt hatte. Sie atmete langsam tief ein, bis ihre Lungen sich ganz mit der frischen Luft gefüllt hatten. Verwelkte Blumen. Irgendetwas an dieser Bemerkung erzeugte bei ihr so zwiespältige Gefühle,dass sie jeder weitere Schritt Überwindung kostete. Wieder blieb sie stehen. Sie war erschrocken, sie fror, zog den Mantel enger, ging vorgebeugt weiter und beschleunigte, sobald sie dunkle Ecken passieren musste.
    Immer wieder drehte sie sich nach rechts und links, entdeckte aber niemanden, obwohl sie die ganze Zeit das Gefühl hatte, als folgte ihr jemand. Sie redete sich ein, sie sei allein, doch als sie das nicht beruhigen konnte, legte sie noch einmal an Tempo zu.
    Schon nach wenigen Schritten fühlte sie sich wie unter Strom, und das Gefühl, beobachtet zu werden, wurde noch stärker. Wieder zögerte sie, ließ die Blicke schweifen, sah forschend in die Fenster von Bürogebäuden – auf der Suche nach dem einen Augenpaar, das, wie sie nur allzu deutlich spürte, jeden ihrer Schritte beobachtete. Doch auch diesmal fand sie nicht den kleinsten Anhaltspunkt dafür, dass ihre kalte, nervöse Angst, die ihr die Kehle zuschnürte und sie überwältigte, berechtigt war.
    Reiß dich zusammen, befahl sie sich. Sie lief so schnell, wie es ihre hohen Absätze erlaubten. Sie hatte das Gefühl, so ziemlich alles falsch gemacht, fast sämtliche Regeln missachtet zu haben, an die sich eine Frau zu ihrer Sicherheit in der Großstadt halten sollte, nicht bei der Sache gewesen zu sein und sich in eine gefährliche Situation manövriert zu haben. Nur dass sie keine handgreifliche Bedrohung sehen und deshalb nur noch schneller vorwärts stolpern konnte.
    Susan verlor das Gleichgewicht, rutschte aus, fing sich gerade noch, ließ jedoch die Handtasche fallen. Hastig hob sie Lippenstift, Kugelschreiber, Portemonnaie und Tasche auf, die quer über den Bürgersteig verstreut lagen. Ebenso eilig stopfte sie die Sachen wieder in die Tasche und hängte sich den Riemen über die Schulter.
    Der Eingang zur Parkgarage war nur noch wenige Meter entfernt, und noch im Laufen streckte sie die Hand nach den Glastüren aus. Sie warf sich in den engen Raum dahinter und atmete keuchend aus. Auf der anderen Seite der dicken Schlackensteinmauer befand sich der Kiosk, an dem der Angestellte beim Verlassen der Garage die Parkgebühr von den Fahrern kassierte. Sie fragte sich, ob er sie hören konnte, falls sie laut schrie.
    Das bezweifelte sie. Ebenso glaubte sich nicht, dass er etwas unternehmen würde, falls er sie doch hörte.
    Susan nahm sich ins Gebet. Pack die Sache selbst an. Finde deinen Wagen und hau ab. Benimm dich nicht wie ein kleines Kind. Einen Moment lang starrte sie zur Treppe hinüber. Sie war dunkel und lag im Schatten.
    Sie drehte sich um, drückte den Fahrstuhlknopf und wartete. Sie fixierte die kleinen Lämpchen, die den Abstieg des Fahrstuhls anzeigten. Ebene drei. Ebene zwei. Ebene eins. Erdgeschoss. Die Türen öffneten sich ächzend und rasselnd.
    Sie trat vor und blieb abrupt stehen.
    Ein Mann in Parka und Skimütze stürmte mit abgewandtem Gesicht, so dass sie es nicht sehen konnte, derart schnell an ihr vorbei, dass er sie beinahe umgerannt hätte. Susan rang nach Luft und taumelte zur Seite.
    Wie um einen Schlag abzuwehren, hob sie den Arm, doch die Gestalt stürzte bereits durch die Glastür Richtung Treppe und verschwand so schnell im Dunkel, dass sie kaum Zeit hatte, sich irgendetwas von ihm einzuprägen. Er trug Jeans. Die Skimütze war schwarz und der Parka marineblau. Das war’s.
    Sie konnte nicht sagen, ob er klein oder groß, kräftig gebaut oder schmächtig, jung oder alt, weiß oder dunkelhäutig war.
    »Verdammt«, stieß sie keuchend hervor. »Was zum Teufel war das?«
    Einen Moment lang lauschte sie angestrengt, konnte jedoch nichts hören. So schnell, wie der Mann aufgetaucht war, so schnell war er wieder verschwunden, und sie fühlte sich doppelt einsam und verloren. »Verdammt«, wiederholte sie, während ihr das Herz bis zum Halse schlug und das Adrenalin in den Schläfen pochte. Die Angst hatte sie überschwemmt, und nicht nur ihr logisches Denken, sondern auch das Ich-Bewusstsein ausgeschaltet. Susan Fletcher versuchte mit aller Macht, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Mit äußerster Willenskraft brachte sie jede Gliedmaße dazu, ihr zu gehorchen. Beine, Arme, Hände. Sie bestand darauf, dass ihr Herz und ihre Lungen sich erholten, doch ihrer Stimme war noch nicht

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