Das Orakel der Seherin
zurückgekommen«, keucht er. »Sie wird gleich da sein.«
Ich stelle das Buch dorthin zurück, woher ich es genommen habe. »Sie wird eine Minute bis hier oben brauchen. Wir haben noch ein wenig Zeit.«
Als wir draußen vor den Fahrstühlen stehen, kommen mir Zweifel. Als Seymour eben den Knopf drücken will, halte ich seine Hand fest.
»Möglicherweise kann sie unten in der Tiefgarage feststellen, daß der Fahrstuhl in den achtzehnten Stock hochfährt. Sie ist klug genug, um das nicht unbedingt für einen Zufall zu halten. – Laß uns besser die Treppen nehmen.«
»Ich will nur endlich hier raus«, murmelt Seymour beunruhigt.
Auf halbem Weg nach unten halte ich Seymour an. Wenn ich sehr aufmerksam lausche, höre ich, daß uns jemand von unten entgegenkommt. Die Person hat es offensichtlich nicht eilig, und natürlich könnte es irgend jemand sein. Aber mir gefällt der Gedanke nicht, daß ich nicht weiß, wer da gleich unseren Weg kreuzen wird. Sehen kann ich nichts, denn die einzelnen Stockwerke sind voneinander abgetrennt. Seymour beobachtet mich ängstlich.
»Was ist los?«
»Jemand kommt die Treppe hoch.«
»Ist sie es?« keucht er.
»Ich weiß es nicht.« Ich zögere. »Aber die Person hat einen leichten Schritt.
Ich denke, daß es eine Frau ist.«
»O Gott.«
»Pst. Sie ist noch weit unter uns. Laß uns den Fahrstuhl nehmen.«
Im Aufzug will Seymour eben den Knopf für die Empfangshalle drücken, als ich seine Hand festhalte und selbst die zweite Garagenebene drücke. Seymour ist fassungslos.
»Warum hast du das getan?« fragt er.
»Weil sie das bestimmt nicht von uns erwartet. Zumindest nicht dann, wenn sie davon ausgeht, daß wir wissen, wo ihr Wagen geparkt ist.«
»Aber vermutlich ist sie immer noch in ihrem Auto.«
»Ganz ruhig, Seymour. Ich weiß genau, was ich tue.«
Zumindest hoffe ich das. Als sich die Aufzugtür öffnet, rechne ich damit, jeden Augenblick angegriffen zu werden. Aber nichts geschieht. Wir scheinen allein in der Tiefgarage zu sein. Ich bedeute Seymour zu bleiben, wo er ist, und trete geräuschlos in den unterirdischen Raum. Alle meine Sinne sind bis zum äußersten geschärft, aber ich entdecke nichts. Es gibt kein Anzeichen dafür, daß sich Kalika hier unten befindet. Ich mache Seymour ein Zeichen, daß er zu mir kommen soll.
»Wir sollten zusehen, daß wir zu unserem Wagen kommen und von hier verschwinden«, flüstere ich ihm ins Ohr.
Er nickt heftig. »Ganz meiner Meinung. Ich bin einfach nicht der Typ für solche Abenteuer.«
8.
KAPITEL
Ich wähle Dr. Seters Nummer in San Francisco. James kommt an den Apparat, und er gibt vor, froh zu sein, meine Stimme zu hören. Vielleicht gibt es er auch nicht vor, vielleicht ist er es wirklich, aber trotzdem fragt er im nächsten Atemzug, ob ich jetzt bereit bin, ihnen meine Schrift zu zeigen. Ich antworte, daß ich ihm sogar noch etwas viel Wichtigeres zeigen werde. Wir verabreden, uns nach der Veranstaltung im Hilton zu treffen, dann legen wir auf, und ich buche einen Flug nach San Francisco.
Wenig später sitzen wir im Flugzeug. Als die Maschine vom Boden abhebt, weist Seymour auf den hellbraunen Umschlag in meiner Hand.
»Was ist das?«
»Zeitungsausschnitte. Beweise.«
»Aha. Dann frage ich am besten nicht weiter.«
»Du wirst früh genug erfahren, worum es sich handelt.«
Wir gehen nicht zu der Vorlesung, weil ich damit rechne, daß Kalika möglicherweise dort sein könnte. Statt dessen warten wir in der Lounge des Hilton auf Dr. Seters Rückkehr. Als er schließlich kommt, wirkt er erschöpft von den Anstrengungen, aber James ist frisch und attraktiv wie immer. Ich stelle den beiden Seymour als einen alten Freund von mir vor, und sie lassen sich uns gegenüber nieder. Dr. Seter bestellt sich einen Scotch und James eine Cola.
Seymour kaut an irgendwelchen Knabbereien und trinkt Blaubeersaft.
Ich esse und trinke nichts, noch nicht einmal ein paar Tropfen Blut. Ich fürchte, daß bald genug roter Lebenssaft fließen wird, um auch meine blutrünstigsten Phantasien zu befriedigen. Ob Kalika ihre Opfer immer noch tötet, und ob sie jede Nacht auf die Jagd geht?
Dr. Seter betrachtet mich mit müdem Blick. Zum erstenmal lausche ich seinem Herzschlag. Seine Arterien sind leicht verstopft, das höre ich, und der Puls geht nicht ganz gleichmäßig. Ich gehe davon aus, daß er seine Krankheit kennt – und auch im Augenblick eine Enge in der Brust spürt. Trotzdem lächelt er warm, bevor er zu sprechen beginnt. Er
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