Das Orakel der Seherin
Tür !« fordere ich eindringlich.
Im nächsten Augenblick schwingt die Tür auf.
Apartment Nummer 1821 befindet sich natürlich im achtzehnten Stockwerk.
Ich möchte vermeiden, das Schloß aufzubrechen, denn Kalika soll, wenn möglich, nichts von meinem Besuch hier erfahren. Aus diesem Grund habe ich einige Nadeln mitgebracht. Tatsächlich gelingt es mir bald, das Schloß zu öffnen, und die Tür gleitet auf. Seymour steht hinter mir. Sein Gesicht hat die Farbe eines Leichentuchs.
»Es macht wesentlich mehr Spaß, diese Geschichten zu erfinden, als sie zu erleben«, murmelt er.
»Pst«, flüstere ich. Dann treten wir ein und schließen die Tür. »Stell dich nach vorn auf den Balkon und achte darauf, wann ihr weißer Mercedes wiederkommt.«
»Und was hast du vor?«
»Ich suche Hinweise, die mir sagen, was sie als nächstes vorhat.«
Kalika bewohnt ein Eckapartment mit zwei Schlafzimmern. Die Wohnung hat zwei Balkone und einen tollen Blick auf die Stadt. Sie ist elegant, die Möblierung eher karg, aber geschmackvoll. Sie scheint das Klassische dem Modernen vorzuziehen, aber ihr Geschmack ist keineswegs altmodisch. Sie besitzt einen großen Fernseher, und ich frage mich, wie viele Programme sie empfängt und welches ihr Lieblingssender ist.
Während Seymour draußen auf dem Balkon Wache hält, betrete ich das erste Schlafzimmer, das sie zu einer Art Büro umfunktioniert hat. Ich entdecke einen Schreibtisch, einen Computer, ein Fax. Die Schubladen des Tischs sind unverschlossen, und ich werfe kurz ein paar Blicke auf ihren Inhalt. Dabei entdecke ich einige Karten, was mich nicht sonderlich überrascht. Die meisten von ihnen beziehen sich auf Kalifornien und schlüsseln zum Beispiel das Straßennetz um Big Sur, Mount Shasta oder Lake Tahoe auf. Zu diesen Gegenden besitzt sie außerdem einige Reiseführer. Zudem finde ich ein Buch über Sedona, was in Arizona liegt. In einer anderen Schublade entdecke ich weitere Bücher über diese Orte – Bücher, die jedoch keine »typischen« Reiseführer sind. Sie enthalten sehr persönliche Beschreibungen dieser Gegenden. Ich überfliege die Bücher – ich bin in der Lage, etwa dreißigtausend Worte pro Minute zu lesen und den Inhalt dabei genau zu verstehen. Einige Geschichten beschreiben die ungewöhnlich kraftvollen Schwingungen an diesen Orten. Mich fasziniert, daß Kalika sich offenbar sehr mit Örtlichkeiten auseinandersetzt, die in den New-Age-Bewegungen der letzten Jahrzehnte eine große Rolle spielen.
»Magst du selbst diese Gegenden?« frage ich leise. »Oder glaubst du, daß diese Orte das Baby anziehen werden?«
Ich betrete das Zimmer, in dem meine Tochter schläft. Ihr Bett ist ordentlich gemacht. Auf ihm liegt als Tagesdecke ein chinesischer Quilt. Über eine Kommode in der Ecke des Raumes hat sie ein weißes Seidentuch ausgebreitet, was das Ganze fast wie einen kleinen Altar wirken läßt. Darauf stehen einige Bücher, ein Shiva Lingam Set und ein Duftlämpchen, das schwachen Moschusgeruch verbreitet.
Der Lingam ist ein polierter, grauer, phallusförmiger Stein mit drei roten Punkten darauf. Mir ist bekannt, daß die Form und die roten »Markierungen«
ein natürliches Merkmal dieses Steines sind. Als ich ein Kind war und noch sterblich, also vor etwa fünftausend Jahren, gab es in unserem Dorf einen solchen Shiva Lingam. Man sagt, daß diese Steine die Energie Lord Shivas besitzen, welcher der Gemahl von Mutter Kali ist – und derjenige, der am Ende aller Zeiten die Zeit selbst zerstören wird. Laut Geologen entstehen Lingams durch den Aufprall von Meteorteilen auf die Erde. Jedenfalls sind sie hochgradig magnetisch. Das spüre ich auch, als ich mit der Hand sanft über den Stein streiche.
Neben dem Lingam bewahrt Kalika drei Bücher auf: Das Bhagavad-Gita, die Upanishads und das Mahanirvana Tantra. Das Gita ist das Evangelium nach Krishna, die Upanishads sind eine Sammlung von Geschichten göttlichen Wissens, und das Mahanirvana Tantra beschreibt Kali in ihren verschiedenen Erscheinungsformen und die unterschiedlichen Arten ihrer Verehrung. All diese Bücher sind spiritueller Natur. Aber obwohl ich mir große Mühe gebe, weiß ich nicht, was ich daraus schließen soll. Ob ich erleichtert oder verängstigt sein soll.
Es ist eine uralte und sehr bedauernswerte Tatsache, daß im Namen Gottes mehr Menschen getötet wurden als aus anderen Gründen.
Ich greife gerade nach dem Gita, als Seymour atemlos in den Raum stürzt.
»Ihr Wagen ist gerade
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