Das Orakel der Seherin
zum Strand unterhalb Paulas Haus zu wollen, aber dann wird klar, daß ihr Ziel die kleine Insel inmitten der Bucht ist. Vielleicht hat sie ihre Meinung geändert, weil das Wasser immer schneller ins Boot strömt. Kalika nimmt das Kind auf und drückt es an ihre Brust, noch bevor sie die Insel erreicht. Dann springt sie aus dem sinkenden Boot und eilt den Pfad zu einem kleinen, offenbar verlassenen Haus auf dem höchsten Punkt der Insel hinauf. Ich schiebe das Gewehr unter meinen schwarzen Ledermantel, dann springe ich ins Wasser und tauche unter.
Die Temperatur des Sees ist eisig, und ich empfinde sie als äußerst unangenehm. Obwohl Vampire Kälte besser ertragen können als Menschen, mögen sie sie nicht. Meine Schwimmbewegungen werden durch die Kleidung und die Waffe darunter behindert; trotzdem erreiche ich die Insel in weniger als einer Minute. Naß und frierend stehe ich im Mondlicht am Strand. Dann hole ich das Gewehr hervor und lade das Magazin erneut. Die Chancen, daß es trotz meiner Tauchaktion weiterhin funktioniert, sind gut. Falls es das nicht tun sollte, wird dies die letzte mondbeschienene Nacht meines Lebens sein.
Kalika sitzt auf einer Bank in dem Steinhaus auf dem Hügel der Insel.
Eigentlich ist es kein richtiges Haus mehr, sondern nur noch eine Ansammlung alter Mauern. Als ich das letztemal hier war, erfuhr ich von einem Reiseleiter, daß sich hier eine Gruppe von Leuten während des zweiten Weltkriegs regelmäßig zum Tee traf. Kalika sitzt da mit dem Baby auf dem Schoß. Sie spielt mit dem Kleinen und ignoriert sowohl mich als auch meine Waffe. Ich spüre, daß ich etwas sagen muß. Natürlich bin ich nicht leichtsinnig und halte das Gewehr weiterhin schußbereit.
Doch vielleicht bin ich auch die größte Närrin aller Zeiten.
»Es ist vorbei«, sage ich. »Setze das Kind auf den Boden!«
Kalika sieht nicht auf. »Der Boden ist eisig. Es könnte sich erkälten.«
Ich deute auf meine Waffe. »Mir ist es ernst.«
»Das ist allein dein Problem.«
»Kalika…«
»Weißt du, welchen Namen Paula dem Kind gegeben hat?« unterbricht sie mich.
»Nein. Ich hatte keine Zeit, sie zu fragen.«
»Ich glaube, sie hat ihn John genannt. Und so nenne auch ich ihn.« Jetzt endlich sieht sie mich an. »Übrigens kennst du Mike, nicht wahr?«
Ich bin verwirrt. »Ja. Hast du mit ihm gesprochen?«
»Nein. Aber ich kenne ihn. Er ist ein Rumtreiber.« Sie hebt das Kind an ihre Brust. Kalika ist üppig gebaut; vermutlich könnte sie mit ihrer Statur viele gesunde Kinder zur Welt bringen. Aber Gott allein weiß, was es für Geschöpfe wären. Sie streicht über den weichen Schädel des Kindes. »Ich glaube, wir bekommen Gesellschaft.«
»Wovon redest du?«
»Dein Freund ist auf dem Weg hierher.«
»Gut«, sage ich, obwohl ich niemanden nahen höre. »Ein Grund mehr für dich, das Kind herauszugeben.« Langsam werde ich ungeduldig. »Setz es auf den Boden.«
»Nein!«
»Dann werde ich schießen.«
»Das wirst du nicht.«
»Du hast zwei Dutzend unschuldiger Leute getötet. Vor meinen Augen hast du ihre Herzen heraus- und ihre Köpfe abgerissen, und trotzdem glaubst du noch immer, daß du mir etwas bedeutest? Wenn ja, dann irrst du dich.« Ich trete näher und richte den Lauf der Waffe auf ihr Gesicht. »Du bist nicht unsterblich.
Wenn ich abdrücke, wirst du sterben, und dein Gehirn wird sich auf der Wand hinter dir verteilen.«
Sie starrt mich an. Hier drinnen bescheint uns das Mondlicht nicht. Daher sollten auch ihre dunklen Augen nicht leuchten. Trotzdem glänzen sie in einem merkwürdigen hellen Schimmer. Als ich sie das letztemal gesehen habe, bei unserer Konfrontation auf dem Pier, schien es ein rotes Licht zu sein. Doch vielleicht gehört die Farbe nicht zu ihr, sondern zu mir. Vielleicht ist sie nur ein Spiegel für mich, Kali Ma, den ewigen Abgrund, der die Zeit selbst zerstört.
Mich, die ich selbst Mutter bin. Ich kann nicht sie und das Kind ansehen, ohne daran zu denken, wie es war, sie selbst als Baby auf dem Schoß zu halten.
»Der Körper wird geboren und stirbt«, sagt sie. »Doch die Seele ist ewig.«
Ich fuchtele wütend mit dem Gewehr herum. »Beweg dich endlich!«
Kalika lächelt. Sie will etwas sagen.
Doch plötzlich spüre ich eine Messerklinge an meiner Kehle.
»Ich werde jetzt das Gewehr nehmen«, flüstert mir James leise ins Ohr.
Ich bin überrascht, aber nicht wirklich erschrocken.
»James«, sage ich ruhig, »ich habe nicht vor, das Kind zu töten.«
Er preßt das
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