Das Orakel der Seherin
Messer fester an meine Kehle und zwingt mich so, den Kopf stärker nach hinten zu beugen.
»Das weiß ich, Sita«, sagt er. »Trotzdem will ich das Gewehr.«
Ich schlucke. Jetzt beginne ich mir Sorgen zu machen.
»Woher kennst du meinen Namen?« frage ich.
Er greift nach dem Gewehr und entzieht es mir vorsichtig.
»Weil wir uns schon einmal begegnet sind«, sagt er. »Du kannst dich nur nicht mehr an mich erinnern.«
»Sie erinnert sich sehr wohl«, erklärt Kalika und erhebt sich mit unergründlichem Gesichtsausdruck.
Während er das Gewehr auf sie richtet, hält James noch immer das Messer an meine Kehle. Mir gelingt es, einen Blick darauf zu erhaschen. Es ist ein altes Messer, das sehe ich, aus bloßem Metall. James ist die Ruhe selbst. Er macht eine Bewegung mit dem Gewehrlauf.
»Du wirst das Kind neben dich auf die Bank setzen«, fordert er meine Tochter auf. »Wenn du es nicht tust, werde ich schießen, und du weißt, daß ich mein Ziel nicht verfehle. Keines von ihnen.«
Kalika reagiert nicht.
James läßt das Messer leicht über meinen Hals gleiten, und ich beginne zu bluten.
»Ich werde deine Mutter töten«, sagt er. »Du wirst dabei zusehen, wie sie stirbt.«
Ein Schatten gleitet über Kalikas Gesicht. »Nein«, sagt sie.
James lächelt. »Du kennst mich, und du weißt, daß ich nicht bluffe.«
Kalika nickt fast unmerklich. Fast scheint es mir, als ob sie ihn wirklich von irgendwoher kennt.
»In Ordnung«, murmelt sie, und ihre Stimme klingt sanft und vielleicht ein wenig niedergeschlagen.
»Mach schon!« fordert James.
Kalika macht Anstalten, das Kind abzusetzen. Das Baby ist fast ihren Händen entglitten, als ich erkenne, daß sie ihre Absicht geändert hat. Möglicherweise bemerkt auch James ihren Umschwung. Ich weiß nicht. Aber er ist auf alles vorbereitet, als sie plötzlich das Kind ergreift und mit ihm im Arm hinausstürzt.
Sie bewegt sich außergewöhnlich schnell, aber James’ Reflexe sind hervorragend.
Er schießt ihr in den Rücken.
Kalika stolpert, aber es gelingt ihr, das Kind festzuhalten. Während er noch immer das Messer an meine Kehle preßt, lädt er das Gewehr erneut und zielt. In diesem Moment ramme ich ihm heftig den Ellbogen in die Seite. Er scheint auch auf diese Attacke vorbereitet zu sein, denn obwohl ich ihm weh getan habe, schafft er es, die Klinge quer über meine Kehle zu ziehen. Und diesmal ist es kein bloßer Kratzer. Plötzlich strömt mein Blut über meine Brust, pulsiert mein Leben aus mir heraus, und James legt wieder auf Kalika an, und es gibt nichts, absolut nichts, was ich dagegen tun könnte.
Wieder schießt James Kalika in den Rücken, diesmal in die Herzgegend.
Kalika ist blutüberströmt. Sie versucht, sich umzudrehen, will möglicherweise angreifen, aber als sie sieht, daß James erneut lädt, wendet sie ihm wieder den Rücken zu. Er schießt ein drittes Mal und trifft ihre rechte Schulter. Kalika sackt zu Boden, der rechte Arm hängt kraftlos herab. Doch noch immer hält sie das Kind, schützt es vor den Schüssen, die sie verfolgen. Während ich zu Boden stürze, lädt James erneut. Diesmal zielt er auf Kalikas Kopf und berührt mit dem Lauf fast ihre linke Schläfe. Noch immer hält er das Messer in seiner rechten Hand. Jetzt endlich erkenne ich es.
Orys Messer. Und ich spüre einmal mehr sein Gift in meinen Adern.
Als James jetzt spricht, erkenne ich auch Orys Stimme wieder.
Merkwürdig, daß ich sie bisher nicht erkannt habe. Und folgenschwer.
»Ich will nur das Kind«, sagt James zu meiner Tochter.
Sie starrt zu ihm auf. »Jemand wie du will niemals nur eines.«
Er spannt den Abzug.
»In dem Hochhaus hast du mich verfehlt«, sagt er. »Das war deine Chance.
Und wenn du nicht tust, was ich dir sage, wirst du keine weitere Chance mehr haben. Ebenso wie das Kind.«
Einen Augenblick lang blickt Kalika ihn an.
Dann reicht sie ihm mit dem linken Arm das Baby.
Er nimmt den Jungen in den Arm, mit dessen Hand er das Messer hält.
Damit wendet er sich ab, um zu gehen.
Kalika versucht aufzustehen.
»Nein!« keuche ich und schlucke dabei mein eigenes Blut.
James dreht sich um und schießt ihr mitten ins Herz. Fassungslos stolpert sie ein paar Schritte. Er lädt erneut und schießt auf dieselbe Stelle. Ihr Brustkorb explodiert förmlich. Ihr weißer Mantel und ihr weißes Kleid sind nur noch eine Masse blutgetränkten Gewebes. Noch einmal hebt sie schwach den linken Arm, um es ein letztesmal zu versuchen, doch plötzlich fallen ihr
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