Das Orakel des Todes
geschehen sein. Komplizen könnten erst später dazugekommen sein, als wir schon dabei waren, die Gegend nach den Priestern abzusuchen.“
„Du bist zu weichherzig für einen Praetor“, stellte sie liebevoll fest.
Der ortsansässige Geschichtsschreiber traf pünktlich zum Mittagessen ein. Eine typische Gelehrten-Angewohnheit. Sein Name war Lucius Cordus, und er war ein kleiner Mann mit Tinte an den Fingern. Vom vielen Lesen, was er offenbar selbst bei Lampenlicht tat, hatte er einen Silberblick. Nach dem Austausch der üblichen Höflichkeitsfloskeln nahmen wir an einem Tisch Platz, der unter meinem Sonnendach aufgestellt worden war. Er war mit reichlich Essen gedeckt, über das Cordus sich sofort hermachte, als wollte er sich erst einmal richtig gütlich tun. Ich wartete, bis er gesättigt und seine Zunge vom Wein gut gelöst war, bevor ich zum Thema kam.
„Wie kann ich dem ehrwürdigen Praetor von Nutzen sein?“, fragte er, als sein Appetit gestillt war.
„Man hat mir erzählt, dass du als die führende Autorität giltst, was die Geschichte dieser Gegend anbelangt.“
„Als solche würde ich mich selber nicht bezeichnen“, entgegnete er bescheiden. „Ich verfüge über gewisse Kenntnisse zu dem Thema, und mit meinem bescheidenen Wissen stehe ich dir selbstverständlich gerne zu Diensten.“
„Bist du über die jüngsten Ereignisse im Bilde, die sich hier im Tempel zugetragen haben?“
„Ja, allerdings sind mir verschiedene Versionen zu Ohren gekommen. Ob eine von ihnen der Wahrheit entspricht, vermag ich jedoch nicht zu sagen. Als Historiker weiß ich nur zu gut, dass solche Informationen mit Vorsicht zu genießen sind.“
„Fakten können in der Tat eine windige Angelegenheit sein“, pflichtete ich ihm bei. „Aber vielleicht kannst du mir ein bisschen über die Geschichte dieser beiden nebeneinander stehenden Heiligtümer erzählen.“
„Oh, das ist ein faszinierendes Thema“, erwiderte er, genehmigte sich schnell noch einen Happen Käse und ein Stückchen Brot und spülte beides mit einem noch schnelleren Schluck Wein herunter.
„Wenn ich richtig im Bilde bin, ist der Tunnel zu dem Orakel älter als der Tempel, oder?“
„Sehr viel älter. Wie du vielleicht bemerkt hast, erhoben sich an der Stelle, an der der Tempel steht, mindestens drei Tempel, wenn nicht sogar noch mehr.“
„Ich habe registriert, dass die Fundamente des Tempels sich stark vom campanischen Baustil unterscheiden und dass der griechische Tempel aus einem campanischen hervorgegangen ist.“
„Genau. Meiner Theorie zufolge stammt der Tunnel aus derselben Zeit wie das Tempelfundament. Die Art der Steinbearbeitung von Tunnel und Fundament scheint die gleiche zu sein. Ob die riesigen Steinblöcke schon davor einen Tempel trugen, nur die Basis einer Götterstatue waren oder ob sie womöglich einem ganz anderen Zweck dienten, wissen wir nicht. Sie stammen aus einer Zeit, in der die Kunst des Schreibens noch nicht bis nach Italia vorgedrungen war. Die ältesten Inschriften, die ich gefunden habe und die in einem archaischen campanischen Dialekt gehalten sind, erwähnen den Tunnel schon damals als sehr alt. Eines ist jedoch merkwürdig.“
„Und was ist das?“, fragte ich.
„Es wird weder ein Orakel erwähnt noch findet sich irgendein Hinweis auf Hekate. Der unterirdische Fluss wird erwähnt, allerdings nicht als Styx bezeichnet.“
„Das ist in der Tat interessant“, entgegnete ich. „Hast du eine Ahnung, wann dieser Ort mit dem Hekatekult und dem Orakel in Verbindung gebracht wurde?“
„Die Griechen kamen vor etwa siebenhundert Jahren nach Süditalia. Es waren Dorier, Achäer und Korinther. Sie ließen sich zunächst im Osten nieder und gründeten Brundisium. Später besiedelten sie weitere Teile der Ostküste, breiteten sich am Golf von Tarent aus und gelangten schließlich durch die Straße von Messina an die Westküste, wo sie weitere Städte gründeten. Die Zeiten waren damals rau und gefährlich, und auf dem Meer wimmelte es von Piraten, deshalb bauten sie quer über Land Straßen, um die Siedlungen miteinander zu verbinden. Bald war ganz Süd-italia unter dem Namen Magna Graecia bekannt. Ich glaube nicht, dass Hekate vor dieser Zeit hier Einzug gehalten hat, denn sie ist eine griechische Göttin, wie auch die zu ihren Ehren abgehaltenen Zeremonien griechischen Ursprungs sind.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich glaube, dieser Tunnel existierte schon viele Jahrhunderte vor dem Eintreffen der
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