Das Orakel des Todes
Griechen. Aber es gibt noch eine Unstimmigkeit.“
„Und die wäre?“, hakte ich fasziniert nach. Zumindest hielt dieser Lucius Cordus keine endlosen Monologe wie so viele andere Gelehrte meines Bekanntenkreises.
„Hekate ist keine Orakelgöttin. Orakel werden normalerweise mit Schlangen in Verbindung gebracht, hier jedoch gibt es keinen Schlangenkult. Hekate ist eine der wirklichen griechischen autochthonoi, aber sie kommuniziert nicht mit Bittstellern. Außer hier. Genau genommen datiert die erste Erwähnung ihres Orakels, auf die ich gestoßen bin, aus einer Zeit vor etwa dreihundert Jahren, und .auch dort ist nur die Rede von einer Opferung schwarzer Hunde, ihren traditionellen heiligen Tieren.“
„Glaubst du, es könnte sich um ein falsches Orakel handeln?“
„Ich maße mir nicht an, ein Urteil über das Tun und Lassen der Unsterblichen abzugeben. Falls es ein falsches Orakel ist, hat es sich jedenfalls länger gehalten als die meisten anderen. Der Wille der Menschen, an etwas zu glauben, ist außerordentlich stark.“
Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und überlegte laut. „Wir haben also einen sehr alten Tunnel, der einem uns unbekannten Zweck diente oder möglicherweise ungenutzt existierte, bis der Hekatekult Einzug hielt.“
„Natürlich sind die Schriftzeugnisse sehr bruchstückhaft, aber ich kann mir kaum vorstellen, dass etwas so Bemerkenswertes nicht häufiger Erwähnung gefunden haben sollte. Was die mündlichen Überlieferungen der Einheimischen angeht, würde ich ihnen nicht den geringsten Glauben schenken. In jeder ländlichen Gegend erfinden die Bauern Mythen über ihre Gegend und ihre Vorfahren, die voller Widersprüche sind. Es gibt nur wenige Leute, die in der Disziplin logischen Denkens geschult sind.“
„Diesen Eindruck kann man gewinnen“, stimmte ich ihm zu. „Was ist mit dem campanischen Tempel, der auf dem alten Fundament errichtet wurde?“
„Die Campaner stießen aus ihrem nördlich gelegenen Siedlungsgebiet nach Süden vor und erreichten diese Gegend etwa um dieselbe Zeit wie die Griechen. Vorher gab es hier nur die primitiven Siedlungen der Ureinwohner.“
„Du glaubst, es gab die Ureinwohner wirklich?“
„Es muss sie gegeben haben. Davon zeugen die zahlreichen Grabstätten, die es schon vor der Ankunft der Griechen und der Campaner gab. Ob es sich dabei tatsächlich um die legendären Ureinwohner handelt, kann ich nicht sagen, aber die Grabstätten, die ich untersucht habe, deuten auf ein sehr niedriges kulturelles Niveau hin. Sie haben nichts aus Stein gebaut, das überdauert hat.“
„Das heißt, es ging um die Zeit, als Romulus und Remus Rom gegründet haben, zwischen den Griechen und den Campanern hoch her“, stellte ich fest. Das offizielle Datum der Stadtgründung liegt von heute gerechnet etwa siebenhundertundvier Jahre zurück.
„Ich würde sagen, es ging sogar sehr hoch her. Es waren zwei aggressive, kriegerische Völker, die beide dasselbe Land beanspruchten. Und hinzu kam, dass die griechischen Städte in endlose Zwistigkeiten miteinander verwickelt waren. Es ist durchaus möglich, dass dieser Tempel etliche Male erbaut und wieder abgerissen wurde. Er war dem Gott Mamers gewidmet, den man dem Mars gleichsetzen kann. Ein noch viel größerer Tempel des Mamers wurde in Cumae errichtet, doch irgendwann wieder aufgegeben. Im Laufe der Zeit weihten die Griechen den Tempel Apollo. Das war vor etwa zweihundert Jahren.“
„Rührt die Rivalität zwischen den Anhängern des Apollo und denen der Hekate aus der Zeit, in der die Campaner und die Griechen sich um dieses Gebiet schlugen?“
„Durchaus möglich. Ich denke, diese Rivalität diente ihnen als Ersatz für offene Feindseligkeiten, vor allem nachdem Rom die Region befriedet hatte.“
„Tja, manchmal kann man die Leute davon abhalten, sich gegenseitig die Köpfe einzuschlagen, aber man kann sie nicht daran hindern, sich weiterhin zu hassen. Die Griechen und die Trojaner würden sich vermutlich immer noch hassen, wenn es noch irgendwelche Trojaner gäbe.“
„Das scheint in der Natur der Menschen zu liegen“, stellte Cordus fest.
„Deshalb ist es am besten, der Stärkste zu sein. Und genau dazu ist Rom fest entschlossen. Immer am stärksten zu sein. Dann kann es einem egal sein, ob einen die anderen hassen, denn man kann sie jederzeit bestrafen. Und da sie das wissen, wagen sie erst gar nicht, sich laut zu beschweren.“
„Wohl wahr, Praetor, wohl war. Wir sind der Schrecken der
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