Das Orakel des Todes
Leute herbei. Es kursierten die wildesten Gerüchte über die neuen Mordopfer, aber bisher war noch kein Aufruhr ausgebrochen. Die Neuigkeit war noch zu frisch. Niemand redete von etwas anderem, und alle brannten auf weitere Einzelheiten. Wahrscheinlich hofften sie sogar auf weitere Morde.
„Perna“, wandte ich mich an den Vorsteher der Vereinigung der Steinmetze, „bist du schon mal in dem Tunnel gewesen, der zur Kammer des Orakels und zur St ..., ich meine zu dem unterirdischen Fluss führt?“
„Ja, das bin ich, Praetor.“ Er war gut gekleidet, rasiert und gebadet, wie es sich für den Vorsteher einer bedeutenden Vereinigung gehört, doch der Staub hatte sich so tief und dauerhaft in seine Hautfalten gefressen wie eine Tätowierung. In seinen jüngeren Jahren war er unverkennbar ein einfacher Arbeiter mit Hammer und Meißel gewesen.
„Was hältst du von den Steinmetzarbeiten?“
„Nun, sie wurden von Männern ausgeführt, die ihr Handwerk verstanden. Jeder Schlag ist exakt und richtig gesetzt worden, die Spuren sind noch heute zu sehen. Die Vorgehensweise ist eher ungewöhnlich, es kann immer nur ein Mann an der Felsfront gearbeitet haben, vielleicht waren es auch zwei. Auf die Weise hat die Arbeit sicher zwanzig Jahre gedauert. Mit einem guten Trupp von einem Dutzend Steinschneidern hätte ich den Tunnel in einem Jahr fertig. Dann wäre er natürlich erheblich breiter. Andererseits - steht es uns an, darüber zu urteilen, wie die Menschen in früheren Zeiten zu Werke gegangen sind? Sie haben wahrscheinlich geglaubt, dass die Götter es so wünschten, und wer würde sich schon anmaßen, den Göttern zu widersprechen?“
„Niemand, da magst du wohl Recht haben“, stimmte ich ihm nachdenklich zu. Ich hatte eine der großen Pyramiden außerhalb von Theben besichtigt, und dort ergab nichts irgendeinen Sinn; Schächte führten ins Nirgendwo, es gab leere Kammern und Schlitze, nicht breiter als eine Hand, die hundert Fuß oder noch weiter durch massives Gestein nach draußen führten, und alles, was man durch sie sah, waren ein oder zwei Sterne. Andere Völker, andere Götter, wie sollten wir sie verstehen?
„Perna“, sagte ich, „mir ist ein Gerücht zu Ohren gekommen, nach dem der Tunnel von unten nach oben durch den Stein getrieben worden sein soll. Kann da etwas dran sein?“
„Wie soll das funktionieren?“
„Ich habe nicht behauptet, dass es so ist“, erwiderte ich gereizt. „Ich frage mich nur, ob es theoretisch möglich wäre.“
Er kicherte. „Nein, Praetor. Ich kann Meißelarbeiten lesen wie ein Buch, das kannst du mir glauben, und dieser Tunnel wurde wie jeder andere von oben nach unten durch den Fels gehauen, und zwar ganz gewöhnlich mit Hammer und Meißel. In so einer engen Röhre ist es ja nicht mal möglich, einen Vorschlaghammer zu schwingen.“
„Hast du eine Ahnung, wie sie es geschafft haben, den Tunnel direkt auf den Fluss zuzutreiben?“
Er zuckte mit den Achseln. „Das kann ich dir nicht sagen. Wahrscheinlich hatten die Götter ihre Hände im Spiel.“
„Diese Antwort hatte ich befürchtet.“ Ich erhob mich von meinem Stuhl. „Komm mit! Du sollst mir sagen, was du von diesem neuen Tunnel hältst, den wir unter dem Tempel entdeckt haben.“ Meine Liktoren folgten uns.
„Von diesem Tunnel habe ich noch nie gehört“, sagte Perna, „und ich habe immerhin mein ganzes Leben in dieser Gegend verbracht.“
„Das sagen alle. Offenbar konnte hier jemand sein Geheimnis gut bewahren.“
Im Tempel ließ ich einen meiner Liktoren die Falltür anheben. Perna grummelte etwas und inspizierte die Tür, dann musterte er die Aufhängung. „Das Gegengewicht ist im Fundament verborgen“, verkündete er. „Das ist auf jeden Fall das Werk von Griechen, nicht von Einheimischen. Ich habe gehört, dass solche Vorrichtungen in alexandrinischen Tempeln verwendet werden. Die Ägypter mögen spektakuläre Effekte, zum Beispiel, wenn ein Gott sich während einer Zeremonie aus der Versenkung erhebt.“ „Stimmt, ich war in Alexandria und habe solche Dinge mit eigenen Augen gesehen. Also los, lass uns den Tunnel begutachten!“ Wir betraten den unterirdischen Gang, und Perna inspizierte Boden, Wände und Decke.
„Auch das ist ein Werk der Griechen“, stellte er fest. Diese Weise der Steinarbeit lehren uns die griechischen Steinmetze seit Generationen. Sie unterscheidet sich erheblich von der Vorgehensweise im Tunnel des Orakels.“
„Das hatte ich erwartet. Kannst du beurteilen,
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