Das Orakel vom Berge
Text? Er konnte sich nicht erinnern; aber wahrscheinlich günstig. Seine Augen fanden die Zeile, überflogen sie.
Die Mauern fallen in den Graben.
Schicke kein Heer.
Verkünde deine Befehle in deiner eigenen Stadt.
Beständigkeit bringt Erniedrigung.
»Großer Gott im Himmel!« rief er erschrocken aus. Und der Kommentar:
Der in der Mitte des Hexagramms angegebene Wandel hat angefangen, stattzufinden. Die Mauern der Stadt sinken in den Graben zurück, aus dem man sie errichtet hat. Die Stunde des Verderbens ist nahe…
Es war ohne Zweifel eine der negativsten Zeilen im ganzen Buch, das doch mehr als dreitausend Zeilen enthielt. Und doch war das Urteil des Hexagramms gut.
Was sollte er nun tun?
Und wie kam es, daß die beiden Sprüche so verschieden waren? Das war ihm bisher nie passiert: Glück und Verderben in der Prophezeiung des Orakels gemischt; dabei konnte es doch nicht das eine oder das andere sein. Man kann nicht gleichzeitig Glück und Verderben erleben.
Oder… doch? Das Schmuckgeschäft wird mir Glück bringen; darauf bezieht sich der Spruch. Aber diese Zeile, diese gottverdammte Zeile, sie bezieht sich auf etwas Tieferes, irgendeine zukünftige Katastrophe, die vielleicht nicht einmal mit dem Schmuckgeschäft in Verbindung steht. Irgendein böses Geschick, das mir auf jeden Fall bevorsteht…
Krieg! dachte er. Der dritte Weltkrieg! Zwei Milliarden verdammte Menschen tot, eine Zivilisation ausgelöscht. Wasserstoffbomben, die wie Hagel niedergehen.
Gewalt! dachte er. Was geht hier vor? Habe ich einen Fehler gemacht? Oder – vielleicht wir alle. Diese Physiker sind schuld daran oder diese Synchronitätstheorie, nach der jedes Partikel mit jedem anderen in Verbindung steht; man kann keinen Furz lassen, ohne das Gleichgewicht des Universums zu verändern. Ich schlage ein Buch auf und bekomme einen Bericht über künftige Ereignisse, die selbst der Herrgott im Himmel am liebsten zu den Akten legen und vergessen würde. Und wer bin ich denn? Jedenfalls der falsche, das kann ich sagen.
Ich sollte meine Werkzeuge holen, meinen Laden eröffnen und mit meinem kleinen Geschäft anfangen, auch wenn das Orakel noch so schlimm ist. Und arbeiten, bis zum Ende tätig sein und so gut leben, wie ich kann, so aktiv wie möglich, bis die Mauer in den Graben fällt, für uns alle, die ganze Menschheit. Das ist es doch, was das Orakel mir sagt. Am Ende wird das Schicksal uns am Kragen kriegen, aber inzwischen hab ich meinen Job; ich muß meinen Verstand einsetzen, meine Hände.
Das Urteil war für mich allein, für meine Arbeit. Aber die Zeile, die war für uns alle.
Ich bin zu klein, dachte er. Ich kann nur lesen, was geschrieben steht, nach oben blicken und dann den Kopf senken und weitertrotten, wo ich aufgehört habe, so als hätte ich es nicht gesehen. Das Orakel erwartet nicht von mir, daß ich die Straße hinauf- und hinunterrenne und es den Leuten zurufe.
Kann es überhaupt jemand verändern? fragte er sich. Wir alle vereint… oder eine große Figur… oder jemand an strategischer Stelle, der sich zufälligerweise gerade am richtigen Punkt befindet. Glück. Zufall. Und unser aller Leben, unsere Welt, hängen davon ab.
Er klappte das Buch zu und ging in die Werkstätte zurück. Als er McCarthy sah, winkte er ihn zu sich heran.
»Je mehr ich darüber nachdenke, desto besser gefällt mir deine Idee«, sagte er.
»Fein«, meinte McCarthy. »Jetzt hör zu. Du mußt dir von Wyndam-Matson Geld beschaffen.« Er zwinkerte ihm zu.
»Ich hab mir auch schon überlegt, wie. Ich werde hier kündigen und dein Partner werden. Meine Entwürfe, weißt du, ich weiß, daß die gut sind.«
»Sicher«, nickte Frink etwas beklommen.
»Wir sehen uns heute abend nach der Arbeit«, erklärte McCarthy. »In meiner Wohnung. Komm doch gegen sieben, dann kannst du mit Jean und mir zu Abend essen – falls dir die Kinder nicht auf die Nerven gehen.«
»Okay«, sagte Frink.
McCarthy schlug ihm auf die Schulter und ging.
In den letzten zehn Minuten hat sich viel verändert, sagte sich Frink. Er spürte die Erregung in sich aufsteigen. Das ist wirklich schnell gegangen, dachte er, als er zu seiner Werkbank hinüberging und anfing, seine Werkzeuge einzusammeln. Aber so geht es mit diesen Dingen meistens. Man muß die Gelegenheit, wenn sie sich bietet…
Wenn das Orakel sagt, ›etwas muß getan werden‹ – dann meint es das auch. Die Zeit ist wahrhaft groß. Welche Zeit ist jetzt? Was ist dieser Augenblick? Sechs ganz oben im
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