Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Orakel vom Berge

Das Orakel vom Berge

Titel: Das Orakel vom Berge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Phillip K. Dick
Vom Netzwerk:
das Buch, in dem er gelesen hatte, aus der Aktentasche, schlug es beim Lesezeichen auf, machte es sich bequem und las weiter.
    … War er tatsächlich so weit gegangen, im Morgenfrieden des Sonntags? Ein anderes Leben. Eiskrem, ein Geschmack, den es nie gegeben hatte. Jetzt kochten die Brennesseln, und man war froh, die zu bekommen. Großer Gott, rief er, hören die denn nie auf? Die riesigen britischen Tanks kamen näher. Wieder ein Gebäude – es war vielleicht mal ein Wohnhaus gewesen oder ein Laden, eine Schule oder ein Büro; er wußte es nicht – die Ruinen brachen zusammen, Schluß. Und darunter im Schutt wieder eine Handvoll Überlebende, begraben ohne auch nur den Laut des Todes. Der Tod hatte sich überall ausgebreitet, gleichmäßig und gerecht, über die Lebenden, die Verletzten, die Leichen, Schicht über Schicht, die bereits angefangen hatten zu stinken. Die stinkende zitternde Leiche von Berlin, die jetzt ohne einen Protest dahinschied, wie dieses eine namenlose Gebäude, das Menschen voll Stolz errichtet hatten.
    Seine Arme waren mit grauer Asche überdeckt, stellte der Junge fest. Er wischte sie ab. Er dachte nicht viel weiter; da war ein anderer Gedanke, der ihn nicht losließ über dem dauernden Dröhnen der Granaten. Hunger. Sechs Tage lang hatte er nichts als Brennesseln gegessen, und jetzt waren auch die alle. Ein Bombenkrater hatte das Unkrautfeld verschüttet… andere ausgezehrte hagere Gestalten, ihm ähnlich, waren am Kraterrand aufgetaucht, hatten stumm dagestanden und waren dann wieder wie im Boden versunken. Ein altes Mütterchen, mit einem Kopftuch, einem Korb in der Hand – leer. Ein Einarmiger, die Augen so leer wie der Korb. Ein Mädchen.
    Und die Schlange kam immer näher.
    Würde es je enden? fragte der Junge. Und wenn es endete, was dann? Würden sie den Bauch jemals wieder voll bekommen, diese…
    »Freiherr«, kam Pferdehufs Stimme. »Tut mir leid, Sie stören zu müssen. Nur ein Wort.«
    Reiss sprang auf, klappte das Buch zu. »Aber sicher.«
    Wie der Mann schreiben kann, dachte er. Er hat mich richtig mitgerissen. So echt, so wirklich. Der Fall Berlins, seine Eroberung durch die Briten, so lebendig, als hätte es tatsächlich stattgefunden. Brrr, er schauderte. Erstaunlich, wie einen so etwas mitreißen kann. Kein Wunder, daß das Buch auf dem Territorium des Reiches verboten ist; ich würde es selbst verbieten lassen. Tut mir direkt leid, daß ich damit angefangen habe. Aber jetzt ist es zu spät; jetzt muß ich es zu Ende lesen.
    Sein Referent sagte: »Ein paar Matrosen von einem deutschen Schiff. Die sollen sich bei Ihnen melden.«
    »Ja«, sagte Reiss. Er ging zur Türe. Dort standen die drei Seeleute in ihren schweren grauen Pullovern, alle mit dicken blonden Haaren, breiten Gesichtern, etwas nervös. Reiss hob die rechte Hand. »Heil Hitler.« Ein kurzes freundliches Lächeln.
    »Heil Hitler«, murmelten sie. Sie zeigten ihm ihre Papiere.
    Als er ihren Besuch im Konsulat bestätigt hatte, eilte er in sein Privatbüro zurück.
    Als er wieder alleine war, schlug er erneut Schwer liegt die Heuschrecke auf.
    Sein Blick fiel auf eine Szene, die sich mit Hitler befaßte. Jetzt konnte er einfach nicht mehr aufhören. Er las die Szene aus dem Zusammenhang gerissen und spürte, wie die Haut in seinem Nacken sich rötete.
    Die Verhandlungen gegen Hitler. Nach dem Kriegsende. Hitler in den Händen der Alliierten, großer Gott. Und Goebbels auch und Göring und all die anderen. Und München. Offenbar gab Hitler gerade dem amerikanischen Anklagevertreter Antwort.
    … schwarz, flammend, schien für einen Augenblick sein Geist wieder aufzulodern. Sein zitternder, zerbrechlicher Körper straffte sich; er hob den Kopf. Und aus seinen beständig geifernden Lippen ein krächzendes, halb bellendes Flüstern: »Deutsche, hier stehe ich.« Ein Schauder überlief seine Zuhörer, die Kopfhörer fest ans Ohr gepreßt, die gespannten Gesichter der Russen, Amerikaner, Briten und Deutschen. Ja, dachte Karl. Hier steht er noch einmal… sie haben uns geschlagen, geschlagen und mehr. Sie haben diesen Supermenschen von seinem Podest heruntergeholt, das gezeigt, was er wirklich ist. Nur – ein…
    »Freiherr.«
    Reiss merkte, daß sein Referent eingetreten war.
    »Ich bin jetzt beschäftigt«, sagte er verärgert und klappte das Buch zu. »Verdammt noch mal, ich versuche dieses Buch hier zu lesen!«
    Es war hoffnungslos. Und er wußte es.
    »Da kommt schon wieder ein Codetelegramm aus Berlin«,

Weitere Kostenlose Bücher