Das Orakel vom Berge
»Herrgott«, sagte sie zu ihm, als sie erkannte, daß er dastand. »Ich weiß nicht, was ich tun soll. Mein Jerseykleid ist ruiniert.« Sie deutete darauf, und er sah den Haufen nasser Kleider.
Sehr ruhig – aber sein Gesicht war dabei verzerrt – sagte er: »Nun, das solltest du ohnehin nicht tragen.« Dann trocknete er sie mit einem flauschigen Handtuch ab, führte sie vom Badezimmer zurück in das warme Schlafzimmer. »Zieh deine Unterwäsche an. Nimm dir etwas. Ich lasse die Friseuse heraufkommen; sie muß einfach. Es geht nicht anders.« Wieder griff er nach dem Telefon und wählte.
»Hast du mir Pillen besorgt?« fragte sie, als er zu Ende gesprochen hatte.
»Das hab ich vergessen. Ich rufe gleich in der Apotheke an. Nein, warte; ich hab da etwas Nembutal oder so etwas.« Er wühlte in seinem Koffer herum. Als er ihr die beiden gelben Kapseln hinhielt, fragte sie: »Zerstören die mich?« Sie nahm die Pillen in die Hand.
»Was?« fragte er, und sein Gesicht zuckte.
Meinen Unterleib verfaulen lassen, dachte sie. »Ich meine«, sagte sie vorsichtig, »meine Konzentration schwächen?«
»Nein – das ist irgendein IG-Farben-Produkt von zu Hause. Ich nehme es immer, wenn ich nicht schlafen kann. Ich hol dir ein Glas Wasser.« Er rannte weg.
Klinge, dachte sie. Ich hab sie verschluckt. Sie wird mich innerlich zerfetzen. Strafe. Mit einem Juden verheiratet und mit einem Gestapomörder im Bett. Sie spürte Tränen in den Augen. Ein Wrack, dachte sie. »So, jetzt gehe ich«, sagte sie und stand auf. »Zum Friseur.«
»Du bist nicht angezogen!« Er führte sie, setzte sie hin, versuchte ohne Erfolg, ihr den Schlüpfer überzustreifen. »Ich muß dein Haar richten lassen«, sagte er mit verzweifelter Stimme. »Wo ist diese Hure bloß?«
»Diese Pillen«, sagte sie. »Die machen einen ganz konfus.«
»Du hast sie ja gar nicht genommen«, sagte er und deutete auf ihre geballten Fäuste. »Du bist geistesgestört«, sagte er. Er war schwer geworden, träge, langsam. »Du bist sehr krank. Wir können nicht fahren.«
»Kein Arzt«, sagte sie. »Das wird schon wieder.« Sie versuchte zu lächeln.
»Ich kann dich nicht zu den Abendsens mitnehmen«, sagte er. »Jedenfalls jetzt nicht. Morgen. Dann geht es dir vielleicht besser. Wir versuchen es morgen. Das müssen wir.«
»Darf ich noch einmal ins Bad?«
Er nickte. Wieder schloß sie die Tür hinter sich. Wieder holte sie eine Klinge aus dem Schränkchen und nahm sie in die rechte Hand. Wieder kam sie heraus.
»Wiedersehen«, sagte sie.
Und als sie die Korridortür öffnete, stieß er einen Schrei aus, griff nach ihr.
»Zzzz. Das ist schrecklich«, sagte sie. »Die tun einem weh. Ich muß das schließlich wissen.« Immer für Handtaschenräuber bereit und all die anderen Leute, die einen in der Nacht belästigen. Und was war aus dem hier geworden? Er hielt sich den Hals, tanzte herum.
»Laß mich vorbei«, sagte sie. »Verstell mir nicht den Weg, wenn du nicht eine Lektion willst.« Sie hielt die Klinge hoch und öffnete die Tür. Joe saß auf dem Boden, die Hände an den Hals gepreßt. »Wiedersehen«, sagte sie und schloß die Tür hinter sich.
Eine Frau im weißen Mantel, singend oder summend, schob mit gesenktem Kopf ein Wägelchen vor sich her, blickte auf die Türnummern und stand schließlich vor Juliana. Die Frau hob den Kopf, und die Augen traten ihr hervor.
»Oh, Süße«, sagte sie, »du bist wirklich voll. Du brauchst keinen Friseur. Geh wieder in dein Zimmer und zieh dich an, ehe sie dich aus dem Hotel werfen. Großer Gott.« Sie öffnete die Tür hinter Juliana. »Laß dich von deinem Mann nüchtern machen; ich ruf beim Zimmerservice an und laß Kaffee schicken. Los, verschwinde jetzt.« Sie schob Juliana in ihr Zimmer zurück, knallte die Tür hinter ihr zu, und man hörte, wie der Wagen weggeschoben wurde.
Die Friseuse, dachte Juliana, und dann blickte sie an sich herunter und sah, daß sie wirklich nichts anhatte; die Frau hatte recht gehabt.
»Joe«, sagte sie. »Die lassen mich nicht.«
Sie fand das Bett, fand ihren Koffer, klappte ihn auf, kippte ihn um. Wäsche, dann die Bluse, den Rock… ein paar Schuhe mit niedrigen Absätzen. »Zwing mich doch, zurückzukommen«, sagte sie.
Sie fand einen Kamm, fuhr sich schnell durchs Haar und bürstete es dann. Wie aufregend. Diese Frau stand draußen und wollte gerade klopfen. Sie stand auf und ging zum Spiegel. »Ist’s so besser?« In der Schranktür war ebenfalls ein Spiegel, und sie
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