Das Orakel vom Berge
ihren Augen wie ein Plan:
Es nützt einem,
etwas zu unternehmen.
Es nützt einem, das große Wasser zu überqueren.
Eine Reise, etwas Wichtiges unternehmen, nicht hierbleiben. Und jetzt die Zeilen. Ihre Lippen bewegten sich… suchten.
Zehn Schildkröten können sich nicht gegen ihn stellen.
Beharrlichkeit bringt Gutes.
Der König tritt vor seinen Gott.
Jetzt sechs in der dritten. Beim Lesen überkam sie Benommenheit:
Unglückliche Ereignisse bereichern einen.
Keine Schande, wenn du es ehrlich meinst.
Und in der Mitte gehst.
Und dem Prinzen ein Siegel bringst.
Der Prinz… das bedeutet Abendsen. Das Siegel, die neue Kopie seines Buchs. Unglückliche Ereignisse. Das Orakel wußte, was ihr zugestoßen war. Das Schreckliche mit Joe oder wer immer er sein mochte. Sie las sechs an der vierten Stelle:
Wenn du in der Mitte gehst
und es dem Prinzen berichtest,
wird er folgen.
Ich muß dorthin gehen, erkannte sie. Selbst wenn Joe mir folgt. Sie verschlang die letzte Zeile:
Er bringt keinen Zuwachs.
Ja, jemand schlägt ihn sogar.
Sein Herz bleibt nicht dauernd beständig.
Mißgeschick.
O Gott, dachte sie; das bedeutet den Mörder, die Gestapoleute – das sagt mir, daß Joe oder jemand wie er, jemand anderer, dort hingehen und Abendsen töten wird. Schnell wandte sie sich Hexagramm dreiundvierzig zu. Das Urteil:
Man muß die Angelegenheit entschlossen am Hofe des Königs bekanntgeben.
Man muß sie wahrheitsgemäß verkünden. Gefahr.
Es ist nötig, seine eigene Stadt zu verständigen.
Es bringt keinen Nutzen, zu den Waffen zu greifen.
Es bringt keinen Nutzen, etwas zu unternehmen.
Es hat also keinen Sinn, zum Hotel zurückzukehren und ihn zu töten; es ist hoffnungslos, weil andere ausgeschickt werden. Und wieder sagt das Orakel sogar noch eindringlicher: Geh nach Cheyenne und warne Abendsen, so gefährlich das auch für mich sein mag. Ich muß ihm die Wahrheit mitteilen.
Sie klappte den Band zu.
Dann setzte sie sich wieder hinter das Steuer und lenkte den Wagen in den Verkehr. Kurz darauf hatte sie die Autobahn nach Norden gefunden; sie fuhr so schnell ihr Wagen das zuließ. Dem Himmel sei Dank für Dr. Todt und seine Autobahnen, sagte sie sich, als sie durch die Finsternis dahinschoß und nichts anderes als ihre eigenen Scheinwerferkegel und die Markierungsstreifen auf der Straße sah.
Ein Wegweiser vor ihr lautete: GREELEY FÜNF MEILEN.
Ich fahre morgen weiter, sagte sie sich, als sie ein paar Minuten später langsam durch die Hauptstraße von Greeley fuhr. Sie sah ein paar Hotels mit ›FREI‹ - Plakaten. Darin lag also kein Problem. Ich muß Abendsen heute abend anrufen und ihm sagen, daß ich komme.
Als sie den Wagen abgestellt hatte, stieg sie müde aus, erleichtert, die Beine wieder ausstrecken zu können. Den ganzen Tag auf der Straße, seit acht Uhr früh. Sie entdeckte einen auch nachts geöffneten Drugstore und ging, die Hände in den Manteltaschen, darauf zu. Kurz darauf stand sie in der Telefonzelle und verlangte die Auskunft.
Gott sei Dank standen die Abendsens im Telefonbuch. Sie schob das Geld in den Schlitz und hörte es klingeln.
»Hallo«, meldete sich eine Frauenstimme, eine muntere, angenehme Stimme, die zweifellos einer jungen Frau gehörte, einer Frau vielleicht im gleichen Alter wie sie.
»Mrs. Abendsen?« sagte Juliana. »Kann ich bitte Mr. Abendsen sprechen?«
»Wer spricht bitte?«
»Ich habe sein Buch gelesen und bin den ganzen Tag aus Canyon City in Colorado hierhergefahren«, sagte Juliana. »Ich bin jetzt in Greeley. Ich habe gedacht, ich könnte es heute abend noch bis zu Ihnen schaffen, aber das geht nicht, und deshalb möchte ich wissen, ob ich ihn irgendwann morgen besuchen darf.«
Nach einer Pause sagte Mrs. Abendsen mit immer noch freundlicher Stimme: »Ja, jetzt ist es zu spät; wir gehen ziemlich früh zu Bett. Hatten Sie – einen besonderen Grund, warum Sie meinen Mann sehen wollen? Er ist im Augenblick sehr beschäftigt.«
»Ich wollte mit ihm sprechen.« Ihre eigene Stimme klang in ihren Ohren ausdruckslos und hölzern: Sie starrte die Wand der Telefonzelle an, wußte nicht, was sie sagen sollte.
»Hawthorne arbeitet sehr unregelmäßig«, sagte Mrs. Abendsen mit ihrer freundlichen, klaren Stimme. »Ich kann Ihnen gar nichts versprechen, wenn Sie morgen kommen. Falls er beschäftigt ist…«
»Ja«, unterbrach Juliana sie. »Das verstehe ich. Aber das Orakel hat mir gesagt, daß ich nach Cheyenne kommen muß.«
»Oh«, sagte Mrs. Abendsen, als wüßte sie
Weitere Kostenlose Bücher