Das Orakel vom Berge
konnte sich von beiden Seiten mustern. »Mir ist das so peinlich«, sagte sie und sah sich um. »Ich weiß gar nicht, was ich tue. Du mußt mir irgend etwas gegeben haben. Jedenfalls hat es mich krank gemacht, statt mir zu helfen.«
Joe saß immer noch auf dem Boden und hielt sich den Hals. »Hör zu. Du bist sehr gut. Du hast meine Aorta durchgeschnitten. Die Arterie in meinem Hals.«
Sie kicherte und schlug sich mit der Hand auf den Mund. »Oh, großer Gott – du bist so dumm, ich meine, du bringst alles durcheinander. Die Aorta ist in der Brust. Du meinst die Halsschlagader.«
»Wenn ich loslasse«, sagte er, »bin ich in zwei Minuten verblutet. Das weißt du. Hol mir also Hilfe, einen Arzt, einen Krankenwagen. Verstehst du? Wolltest du das? Wahrscheinlich. Okay – rufst du an oder holst du jemand?«
Sie überlegte. »Ja, das wollte ich.«
»Nun«, sagte er, »jedenfalls hol mir jemanden, um meinetwillen.«
»Geh doch selbst.«
»Ich hab es nicht ganz zugepreßt.« Das Blut war durch seine Finger gedrungen, über sein Handgelenk. Auf dem Boden war eine Pfütze. »Ich habe Angst, mich zu bewegen. Ich muß hierbleiben.«
Sie zog ihren neuen Mantel an, klappte ihre handgearbeitete Lederhandtasche zu, griff nach ihrem Koffer und so vielen Paketen, wie sie tragen konnte, insbesondere die große Schachtel mit dem blauen italienischen Kleid. Als sie die Tür öffnete, sah sie sich nach ihm um. »Vielleicht sag ich es unten an der Rezeption«, sagte sie.
»Ja«, sagte er.
»Allright«, meinte sie. »Ich sag es ihnen. Und du brauchst gar nicht in meiner Wohnung nach mir zu schauen, weil ich nicht dorthin zurückfahre. Und ich hab jetzt ziemlich viel Geld. Also kann mir nicht viel passieren. Wiedersehen. Tut mir wirklich leid.«
Sie schloß die Türe und eilte so schnell sie konnte durch den Korridor. Im Lift halfen ihr ein älterer gut gekleideter Mann und seine Frau; sie nahmen ihre Pakete und gaben sie in der Halle einem Pagen.
»Danke«, sagte Juliana zu ihnen.
Nachdem der Page ihren Koffer und ihre Pakete durch die Halle und ins Freie getragen hatte, fand sie einen Hotelangestellten, der ihr erklärte, wie sie an ihren Wagen kam. Bald stand sie in der alten Betongarage unter dem Hotel und wartete, bis man ihren Studebaker brachte. Sie gab dem Mann ein Trinkgeld und fuhr auf die dunkle Straße mit ihren Neonreklamen, Autos und Scheinwerfern hinaus.
Der uniformierte Hotelportier lud persönlich ihr Gepäck in den Kofferraum und lächelte so freundlich, daß sie ihm ein enormes Trinkgeld gab, ehe sie weiterfuhr. Niemand versuchte, sie aufzuhalten, und das überraschte sie. Wahrscheinlich wissen die, daß er bezahlen wird, entschied sie. Vielleicht hat er das sogar schon bei der Anmeldung getan.
Während sie neben den anderen Autos vor einer Ampel wartete, fiel ihr ein, daß sie an der Rezeption nichts über Joe gesagt hatte, der jetzt auf dem Boden saß und einen Arzt brauchte, der immer noch wartete, von jetzt bis ans Ende der Welt oder bis die Putzfrau irgendwann morgen auftauchte. Ich sollte umkehren, entschied sie, oder telefonieren, an einer Telefonzelle halten.
Das ist so dumm, dachte sie, als sie einen Parkplatz und eine Telefonzelle suchte. Wer hätte das vor einer Stunde gedacht. Als wir in das Hotel zogen, als wir einkauften… beinahe hätten wir uns angezogen und wären zum Essen gegangen; wir wären vielleicht sogar in den Nightclub gegangen. Wieder hatte sie zu weinen begonnen, stellte sie fest; Tränen fielen von ihrer Nase auf die Bluse. Wirklich dumm, daß ich nicht das Orakel befragt habe; das hätte es gewußt und mich gewarnt. Warum habe ich das nicht getan?
Als sie einen Parkplatz gefunden hatte, saß sie bei laufendem Motor da und zitterte, die Hände in den Manteltaschen. Herrgott, sagte sie verzweifelt zu sich. Nun, ich denke, so etwas passiert eben. Sie stieg aus dem Wagen und zerrte den Koffer heraus. Dann öffnete sie ihn auf dem Rücksitz und wühlte zwischen den Kleidern, bis sie die beiden schwarzen Bände des Orakels gefunden hatte. Dann begann sie, auf dem Rücksitz des Wagens drei RMS-Münzen zu werfen. Was soll ich tun? fragte sie. Bitte sag mir, was ich tun soll. Bitte .
Hexagramm zweiundvierzig. Bewegte Zeilen an der zweiten, dritten und vierten Stelle, daher auf Hexagramm dreiundvierzig umgewandelt. Durchbruch. Sie überflog den Text, versuchte zu begreifen. Herrgott, das schilderte die Situation ganz genau. Wieder ein Wunder. Alles, was geschehen war, lag hier vor
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