Das Orakel von Antara
„Waren nicht auch für dich die Grenzen des Nebelreichs versperrt? War nicht auch deine fast menschliche Natur gefangen in den Ketten von Kälte und Dunkelheit? Auch du warst nur fähig, diese Bande abzustreifen, weil wir dir dabei halfen, und sei diese Hilfe auch nur indirekt gewesen. Du hast ebenfalls erst erfahren, was dir fehlte, als wir dir davon Botschaft brachten. Genauso geht es Leuten wie Lyth. Wie können sie wissen, was ihnen verwehrt wird, wenn sie es nie gekannt haben? Auch in ihnen mag die Sehnsucht nach Freiheit so unbewusst schlummern wie in dir der Wunsch nach Wärme und Licht. Zeige ihnen die Freiheit, und der Wunsch wird ihnen bewusst werden. Und wo der Wunsch erst einmal drängend wird, kommt auch das Verlangen nach Verwirklichung.“
Vanea blickte Yorn nachdenklich an. „Von dieser Seite habe ich es noch nie betrachtet“, gestand sie ein. „Doch dann bleibt mir nur der Schluss, dass ich auch jetzt nicht völlig frei bin. Ist es mir nicht verwehrt, die Heimat wiederzusehen?“
„Hast du nicht aber frei entschieden, als du auf dieses Recht verzichtetest?“ fragte Yorn. „Als du beschlossen hattest, uns zu helfen, konntest du doch nicht sicher sein, dass Naminda dir deine Tat verzeihen würde. Du hast es zwar gehofft, aber du kannst mir nicht erzählen, dass du nicht auch erwogen hast, was dann eintrat. Trotzdem gingst du das Risiko ein und warst bereit, die Folgen auf dich zu nehmen. Du hattest die Wahl, und niemand hat dich zu dem einen oder dem anderen gezwungen. Aber welche Wahl haben die Antaren? Wo ist ihre Freiheit zu entscheiden, ob sie lieber in Antara oder in Moradon leben wollen? Gib ihnen diese Freiheit, und dann akzeptiere ihre Entscheidung, erst dann hast du sie dir gleichgestellt.“
„Aber ich war nicht frei in meinen Entscheidungen“, entgegnete Vanea, „denn meine Liebe zu dir ließ mir keine Wahl. Ich konnte nur so handeln, wie ich es tat, und hoffen, dass es sich zum Guten wendet.“
„Freiheit hat viele Gesichter, Vanea“, schaltete sich Reven ein, „so wie auch die Knechtschaft verschiedene Formen hat. Es ist etwas gänzlich anderes, ob man sich einem fremden Willen unterjochen muss, oder ob man den eigenen Gefühlen oder der Vernunft gehorchen will. Die antarischen Sklaven sind dem Zwang einer fremden Macht unterworfen, du folgtest deinem eigenen Gefühl. Glaube mir, keiner von uns ist gänzlich frei. Wenn man die Freiheit so auslegt, wie du es versuchst, so müsste man sich von allen Gefühlen lösen, die man für eine Person, ja, sogar für bestimmte Dinge hegt. Erst dann könnte man wirklich frei entscheiden, denn dann brauchte man auf nichts Rücksicht zu nehmen. So aber wird es immer etwas geben, was unsere Wahl zu der einen oder der anderen Seite beeinflusst.“
„Meine freie Entscheidung, weiterzureiten oder Pause zu machen, wird durch meinen knurrenden Magen beeinflusst“, brummte Kandon dazwischen. „Vielleicht solltet ihr eure Betrachtungen einmal in die Richtung einer Mittagsrast lenken. Ich nehme mir jedenfalls die Freiheit, dort drüben im Schatten der Baumgruppe nach den Vorräten zu sehen, die Lyth uns freundlicherweise mitgegeben hat.“
Die anderen mussten lachen, denn Kandons praktisches Wesen hatte sie kurzerhand wieder auf die einfachsten und naheliegendsten Tatsachen ihrer Reise zurückgeführt. Wie Kandon vorgeschlagen hatte, rasteten sie unter einer Baumgruppe, die nahe der Straße stand.
Diese Rast hätte jedoch leicht verhängnisvoll werden können, denn sie waren, wie sie spä ter feststellen mussten, nicht weit von einer Herberge entfernt. So jedoch wunderten sie sich über die misstrauischen und erstaunten Blicke einiger Reisender, die auf der Straße an den Lagernden vorbeizogen. Die passierenden Moradonen schüttelten befremdet die Köpfe, und ihre antarischen Sklaven musterten verstohlen, doch voller Neugier die rastenden Gefährten. Warum nur lagerten diese Leute wohl im Freien, wenn es eine Viertelstunde entfernt ein Rasthaus gab, in dem man einen Krug kühles, schäumendes Bier gegen den Durst und eine kräftige Mahlzeit bekommen konnte?
Die Freunde sahen die Skepsis auf den Gesichtern der Reisenden. Bestürzung machte sich unter ihnen breit, und sie sahen an sich hinunter um festzustellen, was an ihrer Erscheinung die Leute wohl so stutzig machte. Doch sie fanden keine Erklärung, zumal etwas Ungewöhnliches an ihnen wohl zuerst von Lyth und den Sklaven auf dem Hof hätte bemerkt werden
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