Das Orakel von Antara
Kandon trennen ließ. Ich ging zu ihr hinüber und sprach sie an. Sie antwortete mir freundlich, und ich spürte, dass sie froh war, dass jemand sich ihr näherte. Und dann sah ich, dass sie blind war. Vielleicht war das der Grund, warum ihre Gedanken so leicht für mich zugänglich waren. Es mag sein, dass ihr Geist den Mangel an Eindrücken hungrig auszugleichen sucht und sich darum weit öffnet, um irgendwoher Ersatz für das Verlorene zu erlangen. Ich bat die alte Frau um Erlaubnis, und freudig gestattete sie meinen Wunsch. Selten fand ich einen Geist, der sich mir so rückhaltlos darbot wie der ihre. Und wie beglückend empfand ich die tiefe Freude, die ich ihr schenkte, als ich sie in meinen Geist aufnahm.“
„Du hast ihr alles offenbart?“ fragte Yorn entsetzt. „Was, wenn sie uns verrät?“
„Sei unbesorgt!“ lächelte Vanea. „Diese Frau würde eher sterben als dich zu verraten, denn sie nahm einst das schwere Los der Gefangenschaft auf sich, um dich zu retten. Denn jene alte Frau ist Finia, die ältere Schwester deines Vaters!“
„Finia?! Finia ist dort?“ Yorn war außer sich. „Warum hast du mir das nicht gesagt? Ich hätte ...“
„ ... dich vielleicht selbst verraten!“ beendete Reven seinen Satz, ehe Yorn weiterreden konnte. „Vanea tat recht, dass sie uns nichts sagte. Wie leicht hätte ein Wort, eine falsche Geste unsere Tarnung zerstören können! Bedenke, man ahnt bereits in Moradon, dass Gefahr droht! Nur absolute Unauffälligkeit kann unseren Plan gelingen lassen. Unsere erfundene Identität hält keiner Prüfung stand, das weißt du!“
„Finia!“ Yorn sah niedergeschlagen vor sich hin. „Bei Saadh! Welch ein Schicksal für eine der edelsten Frauen der Antaren! Blind und schlecht versorgt in einem Sklavenlager! Warum nur kann ich ihr nicht helfen?“ stöhnte er.
„Auch ihr wirst du helfen“, sagte Vanea weich, „doch nicht jetzt sofort. Und nun hat sie wieder Kraft, ihr Schicksal zu tragen, denn sie weiß nun, dass ihr Opfer nicht vergebens war. Mit neuer Hoffnung sieht sie in die Zukunft, denn jetzt steht der Sinn ihres Lebens kurz vor der Erfüllung. Beklage ihr jetziges Leben nicht, denn es hat uns einen großen Schritt näher an unser Ziel gebracht. Saadh hielt auch hier seine Hand über dich, denn er hat dir Finia all die Jahre behütet. Die Moradonen pflegen oft die Sklaven umzubringen, die sich nicht mehr als nützlich erweisen. Finia ließ man leben, vielleicht aus geheimer Scheu, so edles Blut zu vergießen, vielleicht aber auch, weil sie von allen Antaren verehrt wird und schon oft sinnlose Rebellion unter den Sklaven allein durch ihr Wort verhindert hat. Anfangs lebte sie unter den Palastsklaven, doch der König ließ sie nach einiger Zeit fortschaffen, da ihr Anblick ihm Unbehagen und Furcht bereitete. Und so kam sie auf jenes Gut, das einem der Würdenträger gehört. Und der Wille Saadhs lenkte es, dass wir durch dieses Unwetter gerade dorthin verschlagen wurden. Denn durch Finia weiß ich nun, wie wir in den Palast gelangen können. Wir müssen sehen, dass wir kurz vor dem Schließen der Stadttore nach Blooria kommen. Um diese Zeit drängen sich viele Leute in die Stadt, damit sie nicht draußen übernachten müssen. Denn man kommt nur mit einem Pass des Königs hinein, wenn die Tore einmal geschlossen sind. Das ist noch nicht lange so, und die Leute finden diese Anordnung lästig, da sie nicht so recht an eine Gefahr glauben. Die seit über hundert Jahren ungebrochene Macht Moradons hat sie sorglos gemacht. Daher sind die Wachen nachlässig bei der Überprüfung der Leute, die in die Stadt wollen. Je größer der Andrang am Tor ist, desto oberflächlicher wird geprüft. Das ist unsere Chance, unauffällig hineinzukommen. Sind wir erst einmal in der Stadt, können wir ohne Schwierigkeiten untertauchen. Finia kennt den Händler, als dessen Sklaven wir uns ausgegeben haben, und ich entnahm ihrem Geist viele Einzelheiten, die es uns ermöglichen werden, die Wachen am Tor zu täuschen. Wenn wir nachher rasten, werde ich euch Näheres erzählen. Nun aber hört weiter. Einer der Männer, die damals mit Finia in die Sklaverei gingen, lebt als Freigelassener in Blooria. Finia selbst hat das geplant. Der Mann heißt Schorangar, und er war der Mann, den Finia liebte. Ihr zum Gefallen und weil auch er an die Erlösung der Antaren glaubt, hat er sich bei seinem Herrn beliebt gemacht und ihm sogar einmal das Leben gerettet. Finia hat auf
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