Das Orakel von Margyle
verkörperte die grausame Herrschaft über Raths Volk, und doch … Hätte es ihn nicht gegeben, hätte es Maura nie gegeben. Aber Rath hatte weder die Zeit, noch besaß er die Weisheit, das komplizierte Rätsel seiner Gefühle zu lösen.
Er hob den Mann hoch und fand ihn erstaunlich leicht für seine Größe. So, als wäre er überhaupt nie ein richtiger Mensch gewesen, sondern nur dessen äußere Hülle. Rath legte ihn über sein Pferd und führte das Tier zu der Stelle, wo er Maura zurückgelassen hatte. Als sie ihn kommen sah, rannte sie aus dem Wald.
“Es tut mir leid. Ich kam zu spät. Wenn du dich nicht mit ihm abplagen magst, kann ich …”
“Nein!” Mauras Gesicht verriet, welche Gefühle in ihr kämpften. “Ich möchte es zwar nicht … aber ich schulde ihm etwas.”
“Ich weiß.” Rath hob den Toten vom Pferd und legte ihn sich über die Schulter. Dann machte er sich auf den Weg in den Wald. Nicht weit entfernt fand er eine flache, mit Gras bewachsene Stelle, an der es ungewöhnlich ruhig war. Dort legte er die Leiche nieder.
“Du wirst Wasser brauchen.” Er gab Maura seinen Trinkschlauch.
Ob er nun mit dem, was sie vorhatte, einverstanden war oder nicht, auf jeden Fall würde es sie vom Schlachtfeld fernhalten. Das war vielleicht die dritte gute Tat, die dieser Todesmagier in seinem Leben getan hatte.
Rath nahm Maura kurz in die Arme und drückte ihr einen Kuss auf die gerunzelte Stirn. “Sobald wir mit unserer Streitmacht in Deckung gegangen sind, komme ich und schaue nach dir. Jetzt muss ich Delyon finden. Wenn ich nur gewusst hätte …”
Seine Stimme erstarb. Maura nickte. “Geh nur”, sagte sie bestimmt. “Und sei vorsichtig.”
Sie blickte auf die große, schwarz gekleidete Gestalt im Gras. “Wenn ich das je für dich tun müsste …”
Der Schmerz in ihrer Stimme schnürte Rath die Kehle zu. “Mach dir keine Sorgen um mich. Ich habe mein ganzes Leben damit verbracht, mich aus irgendeiner Klemme zu befreien.” Trotzdem fiel es ihm nicht leicht, sie loszulassen, zwischen den Bäumen hindurch zu seinem Pferd zurückzugehen, in den Sattel zu steigen und wieder in die Schlacht zu reiten.
Was er dort vorfand, ermutigte ihn. Der Tod der Todesmagier schien die Aufständigen beflügelt zu haben. Die meisten der hanischen Reiter waren vom Pferd gerissen oder vertrieben worden, und als die Nacht begann, ihren schützenden Mantel über sie auszubreiten, strömte die ganze zerlumpte Armee in den Wald von Aldwood, der ihnen freundlich seine Äste entgegenzustrecken schien.
Aber zu viele der Männer, die auf den Wald zutaumelten, schleppten verwundete oder erschlagene Kameraden mit sich. Jeder einzelne, den Rath an sich vorübergehen sah, versetzte seinem Herzen einen Stich. Er wünschte, er besäße Idrygons Distanziertheit, und diese Männer wären auch für ihn nur Figuren, die auf einem Spielbrett bewegt wurden. Doch für ihn waren sie Kameraden, die an ihn glaubten – ihm vertrauten, damit er ihren Traum von Freiheit wahr werden ließ.
Wie sollte er damit leben, wenn er sie enttäuschte? Er war sich sicher, nicht einmal im Jenseits Frieden zu finden, falls er auf dem Schlachtfeld sein Leben ließ.
“Wolf!” Eine bekannte Stimme drang an sein Ohr. “War ja klar, dass du aufkreuzt, wenn es irgendwo Ärger gibt.”
“Anulf!” Rath zügelte sein Pferd und sprang aus dem Sattel. “Und Odger! Die Han werden in ihren Eisenstiefeln vor Angst schlottern!” Das Lachen blieb ihm in der Kehle stecken, als er zwischen ihnen einen zusammengesunkenen, verwundeten Mann entdeckte. “Theto?”
Anulf schüttelte den Kopf. “Ein Bauer aus dem Norden. Ein guter Bursche, aber er hätte nie in all das hier verwickelt werden dürfen – wo er doch zu Hause eine hübsche Frau und eine Familie hat.”
“Newlyn?” Rath suchte am Hals des Bauern nach dem Puls und stieß einen etwas zittrigen Seufzer aus, als er ihn fand.
“Aye, so heißt er.”
“Steht's schlecht um ihn?”
“Auf jeden Fall nicht gut. Er hat viel Blut verloren. Ich habe ihn, so gut ich konnte, verbunden, aber …”
Rath glaubte oben vom Kamm herab jemanden rufen zu hören: “Der König!”
Seltsamerweise kam es ihm nicht eigenartig vor, dass sie einen anderen als ihn meinten. Doch die Art des Rufs gefiel ihm nicht – das klang nach Schwierigkeiten.
“Bringt Newlyn dorthin.” Rath deutete zum Westrand des Waldes. “Da ist Maura. Wenn jemand ihm helfen kann, dann sie.”
Damit stieg er wieder in den Sattel.
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