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Das Orakel von Margyle

Das Orakel von Margyle

Titel: Das Orakel von Margyle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Hale
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Lichtung lag. Der Trinkschlauch in ihrer Hand wog so schwer wie damals der randvolle Holzeimer hinter Langbards Hütte.
    Das Sterberitual an einem Mann zu vollziehen, der ein Leben lang gegen die Regeln des Allgebers gelebt hatte, erschien ihr wie eine Verletzung der heiligen Lehren. Und wie sollte sie es aushalten, die Erinnerungen, die er während seines Lebens gesammelt hatte, mit ihm zu teilen? Lieber würde sie in einem brodelnden, stinkenden Sumpf baden oder den Inhalt eines Schweinetrogs essen! Sie empfand es als unanständig, solch intimes Wissen mit jemandem zu teilen, den sie nicht gekannt hatte und auch nie hatte kennenlernen wollen.
    Und doch … sie konnte nicht leugnen, ein ganz klein wenig neugierig zu sein. Sie wollte wissen, wie er und ihre Mutter aufeinandergetroffen waren und was sich zwischen ihnen abgespielt hatte. Das allein hätte sie natürlich nicht dazu bewegen können, das Ritual durchzuführen.
    Aber dort, wo er jetzt vielleicht war, war ihr Geist auch einmal gewesen. An diesem Ort endloser, erdrückender, erstickender Dunkelheit befand er sich nur, weil er ihr zu Hilfe gekommen war. Abgesehen davon floss sein Blut in ihren Adern – egal wie sehr sie sich gegen diese Vorstellung wehrte. Wenn er für immer ein Geheimnis für sie bliebe, würde sie nie ganz werden.
    Maura kniete sich neben ihn ins Gras und zog ihm die schwarze Kapuze ab. Beim Anblick seines Gesichts holte Maura erschrocken Luft – es war so ausgemergelt. Selbst im Tod sahen seine Züge nicht friedlich aus.
    Sie entfernte den Stöpsel aus Raths Trinkschlauch und betupfte Hände, Lippen und Stirn des Todesmagiers mit etwas Wasser, während sie die rituellen Worte sang. Ob es wohl im ganzen See der Dämmerung genug Wasser gab, um seine Gedanken, Worte und Taten zu reinigen?
    Widerstrebend schickte sie ihren Geist los, ihn zu suchen. Zu rufen. Als sie keine Antwort erhielt, fragte sie sich, ob sie überhaupt fähig war, ihn zu finden. Sie wusste, dass Rath es damals, als sie in diesem Reich gefangen war, um ein Haar nicht gelungen wäre. Dann spürte sie eine Gegenwart.
    “Wo sind wir?”, fragte er. “Wieso bist du hier?”
    “Ich weiß nicht, was das für ein Ort ist.” Wie sollte sie ihm etwas erklären, das sie selbst kaum verstand. “Aber ich kann dich vielleicht auf den Weg ins Jenseits führen, wenn du willst.”
    “Das Jenseits? Dareth erzählte mir davon und von eurem Allgeber. Ich bezweifle, dass ich dort willkommen sein werde.”
    Seine Befürchtung weckte ein wenig Mitgefühl in ihr. “Möchtest du lieber hierbleiben?”
    “Nein”, erwiderte er schließlich mit einem Hauch von Unsicherheit, die ihm fremd zu sein schien. “Es ähnelt zu sehr dem Leben, das ich hinter mir gelassen habe. Ich habe es hinter mir gelassen, nicht wahr?”
    “Ich glaube, ja.”
    “Dann bring mich, wohin du willst. Aber zuerst beantworte mir eine Frage.”
    “Wenn ich kann.”
    “Warst du vor einer Woche in Venard? Im Palast des Ersten Gouverneurs?”
    “Ja. Ich war es, die du gesehen hast. Danach folgte ich dir und hörte, was du über meine Mutter sagtest. Und so erriet ich …”
    Maura spürte seine Erleichterung. War es jetzt, wo er tot war, immer noch so wichtig, ob er kurz davor gestanden hatte, den Verstand zu verlieren?
    Sie suchte nach einer Antwort auf seine unausgesprochene Verwirrung. “Der Geist und der Verstand sind nicht dasselbe, weißt du. Langbard lehrte mich, dass alle Leiden des Verstandes und des Körpers zurückbleiben, wenn der Geist sich von ihnen löst.”
    “Langbard?”
    “Mein Vormund. Der Mann, dem meine Mutter meine Erziehung anvertraute, als sie starb.”
    “Und wann war das?”
    “Noch bevor ich ein Jahr alt wurde.” Seine Fragen ließen sie immer ungeduldiger werden. Sie konnte es sich nicht leisten, stundenlang hier herumzusitzen. “Du wolltest nur eine Frage stellen.”
    “Stimmt.”
    “Dann komm.” Sie brauchte ihr Vorhaben nur auszusprechen, und schon spürte sie, wie sie sich bewegte und den Todesmagier mit sich zog. Genau wie bei Langbards Sterberitual brachen seine Erinnerungen über sie herein.
    Sie sah seine Kindheit, die sich von der der anderen hanischen Jungen unterschied, denn er war von seiner eigenen Mutter aufgezogen worden, einer strengen, aber völlig in ihn vernarrten Witwe. Weil er ihr einziges Kind war und oft erkrankte, war sie ihm gegenüber besonders nachsichtig. Wenn auch nicht sehr robust, so war der Junge doch klug und besaß einen starken Willen. Als er

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