Das Orakel von Margyle
hätte verstehen können. Trotzdem erriet sie, was der Todesmagier sagte und zu wem.
“Wenn du versuchst, mich zu bannen, spare dir deinen Atem!”, schrie sie. “Ich bin keine Wahnvorstellung. Aber ich bin die Ursache für alles, was du hier um dich herum siehst, und ich werde die Ursache deines Verderbens sein.”
“Das kann nicht sein.” Obwohl er nicht an ihre Existenz glauben wollte, sprach der Magier nun laut. “
Dich
kann es nicht geben.”
“Warum nicht?” Bewusst trat Maura noch näher an ihn heran. “Ist es nicht normal, dass ein Kind entsteht, wenn zwei Menschen beieinanderliegen? Selbst wenn sie die bittersten Feinde sind? Selbst wenn ihre Verbindung aus ihnen beiden Verräter macht?”
Der Todesmagier zuckte zurück, als wären ihre Worte so tödlich wie sein Stab. Die beiden Echtroi, die rechts und links von ihm standen, schienen mittlerweile bemerkt zu haben, dass etwas nicht stimmte.
“Was faselt das Minderlingsweib denn da?”, wollte der eine wissen.
“Bring sie zum Schweigen!”, befahl der andere. “Und dann wieder an die Arbeit. Verflucht sollen sie sein, diese Minderlinge, sie kämpfen wie die Teufel! Wenn es zu vielen von ihnen gelingt, zwischen den Bäumen zu verschwinden, bevor unsere Streitmacht kommt, könnten uns womöglich einige durch die Lappen gehen.”
Der Todesmagier hob den Zauberstab und zielte. Maura machte sich darauf gefasst, dass der Schmerz sie auf seine ihm eigene Art zerfleischen würde. Der Giftstein zeigte genau auf sie, aber Maura verspürte keinen Schmerz. Es brauchte eine große Willensanstrengung, um die fürchterliche Kraft zu bündeln und abzuschießen. Wie es schien, war der Todesmagier nicht imstande, sie gegen sein eigenes Fleisch und Blut zu richten. Vielleicht erinnerte Maura ihn zu sehr an die Frau, die ihn Zärtlichkeit und Leidenschaft hatte empfinden lassen, damals, als er noch ein Herz besessen hatte.
“Du kannst es nicht, nicht wahr?”, rief Maura herausfordernd. Nachsicht war das Letzte, was sie von ihm wollte.
Er schüttelte den Stab und starrte ihn an, die Lippen zu einer dünnen Linie zusammengepresst. Maura spürte immer noch nichts.
Sie hob die Hand und streckte sie ihm entgegen. “Gib mir dieses Ding.”
Jetzt blickte er sie direkt an. “Irgendwie bist du dagegen immun.”
“Ich bin so verletzlich wie jeder andere auch.” Ein unwillkommener Gedanke setzte sich hartnäckig in ihrem Kopf fest. “Vielleicht bist du es auch.”
Sie wollte ihn hassen. Dieser Hass würde der Maßstab ihrer umbrischen Identität und ihrer Loyalität ihrem Volk gegenüber sein.
“Gib mir …” Ihre ausgestreckten Finger begannen zu zittern und Tränen brannten in ihren Augen. Sie wollte keine Tränen vergießen. Sie wären ein Zeichen der Schwäche.
Die Schilfhalme beugen sich unter der mächtigen Wut des Sturms.
Aus den Tiefen ihres Bewusstseins stiegen Langbards Worte in ihr auf und erinnerten sie an eine lang zurückliegende Unterrichtsstunde.
Macht sie das schwach? Ist der Sturm vorbei, richten sie sich wieder auf und gedeihen. Lass unser Herz so geschmeidig sein wie ein Schilfhalm, Liebes, und so stark.
“Gib mir … deine Hand.”
Jetzt stand sie nahe genug bei ihm. Er brauchte sich nur über den Hals seines Pferdes zu beugen, doch würde er ihr gehorchen? Unter der dunklen Kapuze, die seine Identität und seine Menschlichkeit verbarg, glitzerten seine Augen. In ihnen blitzte so etwas wie Entsetzen auf. Würde der Sturm, der in seinem Innern wütete, ihn zerbrechen, wenn er sich weigerte, sich zu beugen?
Der Zauberstab, seine Waffe und sein Schild zugleich, senkte sich, der Todesmagier schwankte und schien mehr zu fallen als sich ihr zuzuneigen. Dann streckte er ihr die Hand entgegen, als hätte ein mächtiger Widerstand unter großem Druck plötzlich nachgegeben. Maura stürzte vor, doch kaum hatte sie ihn mit den Fingerspitzen berührt, als er zurückfuhr und einen lauten Schmerzensschrei ausstieß, der Maura und sein Pferd erschreckte.
So schnell alles begonnen hatte, so schnell war es auch schon wieder vorbei, und Maura hörte den Todesmagier neben ihm knurren: “Sei kein Narr! Gib diesem kleinen Weibsbild, was es verdient.”
Als das Pferd sich aufbäumte, stolperte Maura einige Schritte rückwärts. Jetzt erfasste und zerriss sie der Schmerz, den sie Augenblicke zuvor noch herausgefordert hatte. Jede Faser ihres Körpers schien in Flammen zu stehen. Sie wollte schreien, doch bevor ein Laut über ihre Lippen kam, erlosch
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