Das Orakel von Margyle
Hand. “Hat Langbard dir beim Sterberitual nicht irgendetwas über diese Kunst mitgeteilt?”
Während Maura sich schalt, nicht selbst daran gedacht zu haben, wunderte sie sich gleichzeitig darüber, dass Rath auf die Idee gekommen war. Das Sterberitual war die erste Station auf der Reise zwischen diesem Leben und dem Jenseits. Wenn der Geist eines lebenden Menschen den eines Sterbenden begleitete, wurden Erinnerungen übertragen, sodass dieser Teil des Sterbenden weiterleben konnte.
Mauras Ritual mit ihrem zauberkundigen Vormund war zu kurz gewesen. Wegen der drohenden Gefahr hatte es nur übereilt stattfinden können. Doch seitdem hatte sie immer wieder zwischen ihren eigenen Erinnerungen ganz unerwartet Erinnerungen von Langbard entdeckt. Sie konnten durch ein zufälliges Wort oder eine zufällige Erfahrung geweckt werden. Allerdings hatte sie noch nie versucht, eine Erinnerung wachzurufen, von der sie nicht sicher sein konnte, dass sie überhaupt vorhanden war.
Sie hörte jemanden die Leiter herunterklettern.
“Halte sie zurück”, bat sie Rath. “Lass nicht zu, dass sie ihn holen, bevor ich …”
“Tu es!”, schrie Rath. “Ich weiß, dass du es kannst.”
Hätte sie doch nur halb so viel Vertrauen in sich wie Rath! Maura kroch zu dem vor Schmerz stöhnenden Verwundeten. Sie wünschte, sie hätte die Zeit, ihm einen Trank zuzubereiten, der seine Qual linderte. Aber das musste warten. Noch ein Schwall kalten Salzwassers drang in den Laderaum. Die Bretter des Rumpfs ächzten unter den Schlägen, die sie erhielten.
“Liegt still”, bat sie den verwundeten Mann. “Atmet tief ein und haltet dann die Luft an.”
Sie tastete nach dem aus seiner Schulter herausragenden Schaft und hoffte so die Erinnerung an das zu wecken, was sie als Nächstes tun musste. Sie stellte sich Rath in dem oberen Zimmer in Langbards Hütte vor, wie er im Bett lag, einen hanischen Pfeil im Arm. Und sie stellte sich Langbard vor, der auf dem Rand des Bettes kauerte und sich darauf vorbereitete, den Pfeil aus dem Arm zu treiben.
Und plötzlich
war
sie Langbard, sah die ganze Szene mit seinen Augen, wusste, was er … was sie tun musste.
Dornwurzel – das war es, was sie brauchte! Aber hatte sie noch etwas davon in ihrem Schultergurt? Der dunkle, nasse, schwankende Schiffsladeraum schien vor ihr zurückzuweichen. Wie aus weiter Entfernung hörte sie Raths Stimme, zuerst bittend, dann fordernd. “Ich werde nicht zulassen, dass ihr sie bei der Arbeit stört! Meinetwegen kann Gull deswegen meinen Kopf haben, wenn er will.”
“Die Fische werden unser aller Köpfe haben und den Rest unseres Fleisches dazu”, schrie einer der Mannschaft, “wenn wir diesen verdammten Pfeil nicht endlich so oder so ins Meer werfen!”
“Sie wollen mich über Bord werfen!” Der Verwundete schlug um sich und heulte auf vor Schmerzen, als er dadurch an dem Pfeilschaft zog, den Maura umklammert hielt. “Lasst das nicht zu!”
“Seid ruhig!”, befahl sie ihm und erschrak über ihren Ton. Er erinnerte sie an Langbard, wenn er sofortigen Gehorsam erzwingen wollte.
Als der Mann erstarrte, wandte sie sich zu dem Kerl um, der gerade versuchte, Rath beiseite zu stoßen. “Tretet zurück!”
Die beiden Männer hörten auf zu kämpfen, es wurde still. Maura fühlte, wie eine berauschende Kraft sie durchströmte. Ob sogar die Wehrhaften Wasser ihr gehorchen würden, wenn sie ihnen befahl, sich zu beruhigen? Maura beschloss, das als Letztes auszuprobieren.
Sie durchwühlte ihre Gurttasche. Die Dornwurzel – sie hatte sie nicht fortgeworfen! Vielleicht war Langbards schlummernde Erinnerung gerade wach genug gewesen, sie daran zu hindern.
Sie nahm eine Handvoll von der zu Puder zerstoßenen Wurzel und fing dann einige Tropfen von dem Wasser auf, das durch die Luke lief. Das Seewasser verband sich mit dem Puder zu einer dicken Paste, die Maura um die Wunde herum auftrug.
Mit einem Mal vernahm sie in ihrem Kopf die leise geflüsterte Beschwörungsformel. Maura spuckte das Seegras aus und begann, sie zu singen. Dabei hoffte sie inständig, dass es ihr nicht schlecht werden würde, solange sie den Zauberspruch rezitierte.
Der Pfeil zwischen ihren Fingern begann zu zittern und der Verwundete schrie so laut, dass Maura am liebsten die Finger in die Ohren gesteckt hätte. Sie verhaspelte sich bei einigen Worten.
Rath beugte sich von hinten über sie. “Hör jetzt nicht auf!”
Er schlang einen Arm und sie und streckte die andere Hand aus, um den
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