Das Orakel von Margyle
seine Frage. In seiner Erregung tanzte er fast übers Deck. “Pfeift aufs Ruder – lasst los und seht!”
Er deutete an dem hanischen Kampfschiff vorbei auf die Erzflotte in einiger Entfernung. Obwohl die Sonne im Westen den Horizont schon fast erreicht hatte, konnte man immer noch erkennen, was mit den hanischen Schiffen geschah. Galeeren wie Aufschlitzer taumelten, als wären sie alle in ihrem eigenen kleinen Sturm gefangen. Der Wind blies nicht stärker, als er es den ganzen Tag über getan hatte, doch ein unsichtbarer Sturm türmte gigantische Wellen auf, die die schwer beladenen Schiffe wie Holzklötzchen hin und her warfen.
Nur das Schiff, das die Phantom gejagt hatte, schien es nicht erwischt zu haben – noch nicht. Der Anblick der in Schwierigkeiten geratenen übrigen Flotte hatte die Mannschaft wahrscheinlich so schnell abdrehen lassen. Jetzt holten sie Segel ein und wurden langsamer.
“Ich habe ja schon von den Wehrhaften Wassern gehört.” Gull schüttelte verwundert den Kopf. “Aber ich hätte nie gedacht, sie einmal mit eigenen Augen bei der Arbeit zu sehen.” Er deutete auf den Aufschlitzer. “Die Han können sich nicht entscheiden, ob sie den anderen zu Hilfe eilen sollen oder ob sie lieber zurückbleiben, um nicht auch hineinzugeraten in was immer das auch sein mag.”
Was immer das auch sein mag.
Die Worte ließen Rath bis auf die Knochen frösteln – sein altes Misstrauen gegenüber der Magie meldete sich wieder. Seit er mit Maura zusammen war, hatte seine Furcht abgenommen, weil er nach und nach begriff, dass sie diese spezielle Kraft nur zur Heilung oder zur Verteidigung einsetzte. Aber nie hatte er Maura etwas wie dieses hier entfesseln sehen. Rath hoffte, dass es auch nie so weit kommen würde.
Solche Bedenken schien Gull nicht zu kennen. “Die ganze Erzflotte! Und zu denken, dass meine kleine Phantom sie da hineingelockt hat! Noch in hundert Jahren wird man an der Küste von Duskport davon erzählen und singen!”
Rath machte ihn nicht darauf aufmerksam, dass auch der Sturm letzte Nacht eine Rolle gespielt haben mochte. Sollte Gull seinen Triumph genießen. Wenn die Han durch das umbrische Schiff in ihrer Mitte nicht so abgelenkt gewesen wären, hätten sie vielleicht bemerkt, wie das erste ihrer Schiffe in Schwierigkeiten geraten war, und hätten so Zeit gehabt, abzudrehen. Vielleicht hatten aber auch die kleinen Geschosse mit Irrsinnsfarn ihren Teil dazu beigetragen.
Nach und nach verschlang die See die hilflosen hanischen Schiffe. Rath fragte sich, was der Verlust der Erzflotte für die Han und Umbria wohl bedeuten mochte. Weniger Waffen für die Garnisonen? Eine quälende Unsicherheit unter den Han, dass der eiserne Griff, mit dem sie dieses Land nun schon so lange umklammerten, sich nach und nach lockerte?
“Was machen wir jetzt?”, fragte er Gull.
Der Captain kicherte und nahm ihm das Ruder aus der Hand. “Mit dem hämischen Grinsen aufhören, denke ich mal, und zum Hafen segeln. Denn alles, was von der Erzflotte übrig geblieben ist, wird versuchen, uns zu jagen.”
“Setzt ein letztes Mal Segel, Leute”, schrie er seiner Mannschaft zu. “Dann werden wir schlafen und heute Nacht feiern wir unseren Sieg in Margyle!”
Der Mannschaft schien die Idee zu gefallen, denn sie beeilte sich, Gulls Befehl zu folgen. Bald segelte die Phantom in weitem Bogen nach Westen.
Rath machte sich auf, Maura zu suchen. Vielleicht konnte sie seine Hilfe bei der Pflege der Männer brauchen. Außerdem musste er ihr erzählen, wovon er gerade Zeuge geworden war und was es seiner Meinung nach bedeuten konnte. Sie hielt gerade dem Mann, der von seinem fallenden Kameraden getroffen worden war, einen Becher an die Lippen. Seinen rechten Arm hatte sie mit langen Leinenstreifen fest an seinen Körper gebunden. Sein linkes Bein war mit etwas geschient, das aussah wie ein Besenstiel.
Als sie Rath die Leiter herunterkommen hörte, blickte sie auf und lächelte. “Ich hoffe, all die Hochrufe bedeuten, dass wir endlich außer Gefahr sind.”
Rath nickte und ließ sich neben ihr auf den Boden fallen. “Gull sagt, wir werden schlafen und heute Abend in Margyle feiern.”
Er erzählte ihr nichts über den Beinahezusammenstoß mit dem hanischen Aufschlitzer. Das wollte er sich für später aufbewahren, wenn sie wieder festen Boden unter den Füßen hatten und tödliche, sich wehrende Gewässer zwischen sich und jedem Han, der ihnen Böses wollte.
“Du hättest sehen sollen, was mit der
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