Das Orakel von Margyle
dass es andere Menschen gegeben hatte, die gelebt hatten und gestorben waren, ohne zu wissen, dass der Geist des Wartenden Königs in ihnen schlummerte? Hatte es andere Frauen gegeben, dazu bestimmt, dieses schlafende Potenzial aufzurufen, nur um zu scheitern? Die Möglichkeit ließ sie schaudern.
“Ich wittere eine Verschwörung!” Trochard deutete mit dem Finger auf Delyon. “Diese Eure Forschungen dienen nur dazu, die Machenschaften Eures Bruders zu rechtfertigen!”
“Genug, Trochard.”
Madame Verise bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick, während sie sich von ihrem Sitz erhob. “Wir mögen die Gelehrtheit des jungen Delyon in Frage stellen, aber was seine Integrität betrifft, so gibt es keinen Zeifel. Und ich kann mich für den Mann verbürgen, der diese junge Frau …” Sie sah zu Maura hin. “Verzeiht, meine Liebe. Ich glaube, Ihr wurdet uns noch nicht vorgestellt.”
“Ich heiße Maura.” Sie stand auf und verbeugte sich selbstbewusst vor dem Rat. “Maura Woodbury, Mündel des Zau…”
Aber sie konnte nicht zu Ende sprechen, denn in dem Vestanischen Rat der Weisen brach ein noch größerer Tumult aus als zuvor.
Maura warf Rath einen fragenden Blick zu. Der hob nur die Brauen und zuckte die Achseln, offensichtlich genauso verwirrt wie sie. Als sie den Blick zu Idrygon wandte in der Hoffnung auf eine Erklärung, antwortete er ihr nur mit einem anerkennenden Nicken und einem kalten Lächeln. Das milderte ihre Verwirrung auch nicht … und noch viel weniger ihre Befürchtungen.
7. KAPITEL
“E ndlich habe ich Trochard da, wo ich ihn haben wollte!” Idrygon strahlte Rath und Maura an, während sie im Brunnenhof seines Hauses zu Abend aßen. “Bloßgestellt vor dem Rat als der nörglerische alte Heuchler, der er ist.”
“Klärt mich noch einmal genau über die Splittergruppen auf.” Rath nahm einen weiteren großen Bissen eines köstlichen Gerichts aus Eiern, Käse und Gemüse. Jetzt, wo er einer Sitzung des Rats beigewohnt hatte und die Namen einiger Mitglieder kannte, würde er vielleicht mehr begreifen.
“Mit Vergnügen, Hoheit.” Idrygon hob wie zum Salut seinen Weinkelch, was Rath mindestens genauso unangenehm war, wie mit Hoheit angesprochen zu werden. “Es ist ganz einfach. Wie Ihr heute saht, sind viele im Rat bereits älter. Einige haben schon vor der hanischen Eroberung hier gelebt, andere flüchteten hierher, um den Han zu entkommen. Seitdem sorgten die älteren Weisen für eine kluge, umsichtige Führung, die zu unser aller Nutzen war.”
“Aber die Zeiten haben sich geändert”, sagte Maura.
Ihr Kommentar schien Idrygon zu überraschen. Seine Frau und seine Schwiegermutter aßen schweigend, und Rath vermutete, dass sie es immer so hielten, wenn Idrygon dieses Thema anschnitt. Delyon hatte eine Schriftrolle über seine Knie ausgebreitet. Er las, während er aß, und schien weder von der Unterhaltung noch vom Essen, das er sich in regelmäßigen Abständen in den Mund schob, groß Notiz zu nehmen.
Nach einem kurzen Zögern hatte Idrygon seine Fassung zurückgewonnen und nickte Maura zu. “Das ist wahr, Hoheit, die Zeiten haben sich geändert. In den letzten Jahren sind jüngere Mitglieder dem Rat beigetreten. Mitglieder, die über die Unterdrückung unseres Volkes auf dem Festland bekümmert sind und glauben, dass wir Maßnahmen ergreifen sollten, das zu ändern.”
Rath prostete Idrygon mit seinem Weinkelch zu. Das war doch mal eine gute Nachricht.
Idrygon schüttelte den Kopf. “Zu meinem Bedauern muss ich gestehen, dass unsere Bemühungen von Trochard und seinen Anhängern durchkreuzt wurden. Immer protestierten sie mit der Begründung, wir dürften bis zur Ankunft des Wartenden Königs nichts unternehmen.”
Rath ballte die Faust unterm Tisch. Aus eben diesem Grund hatte er einst die ganze Geschichte vom Wartenden König verächtlich abgetan – weil seine Landsleute lieber träge und untätig in ihrem Elend verharrten und darauf warteten, von den Han befreit zu werden, als die Gelegenheit zu ergreifen und selbst zu handeln.
“Um gerecht zu sein”, sagte Idrygon, “muss man sagen, dass einige der Älteren, wie Madame Verise, aufrichtig daran glaubten. Aber ich hege den Verdacht, dass einige nicht wirklich von Eurer Existenz überzeugt sind. Sie wollen nur ihre eigenen Interessen wahren.”
“Jetzt verstehe ich das alles.” Rath öffnete den obersten Knopf seiner Tunika und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. “Warum dieser Trochard und einige
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