Das Orakel von Margyle
der anderen nicht glauben wollten, dass Maura und ich die sein könnten, die wir zu sein behaupten.”
“Solch unbegründete Anschuldigungen gegen meines Bruders Integrität als Gelehrter zu erheben!” Zum ersten Mal seit Beginn des Essens schenkte Idrygon seinem Bruder einen Blick. “Bruder! Der König und die Königin von Umbria sind unsere Gäste. Könntest du ihnen die kleine Höflichkeit erweisen, bei Tisch
nicht
zu lesen?”
“Verzeihung!” Hastig rollte Delyon die Rolle zusammen und stopfte sie unter seinen Sitz. “Wenn ich etwas lese, das mein Interesse erregt, werde ich blind und taub für alles um mich herum.”
Maura lachte leise. “Ich nehme es nicht übel, Delyon. Tatsächlich fühle ich mich dadurch sogar wie zu Hause. Mein Vormund war genauso. Er musste noch nicht einmal in einer Schreibrolle lesen – er konnte sich genauso leicht in seinen eigenen Gedanken verlieren und kein Wort von dem hören, was ich sagte. Ihr erinnert mich an ihn.”
Aus irgendeinem Grund gefiel Rath diese Bemerkung nicht. Vielleicht, weil er noch nicht einmal die einfachste Schreibrolle in modernem Umbrisch lesen konnte, geschweige denn in irgendeiner alten Sprache. Selbst wenn es ihm gelingen sollte, das Königreich zu befreien, wie sollte ein so ungebildeter Mann wie er es regieren?
Nach einem verzweifelten Blick auf seinen Bruder brachte Idrygon das Gespräch rasch wieder auf sein Lieblingsthema zurück. “Was Euren Vormund betrifft, Hoheit, so ist es ein Glück, dass er der Schwager von Madame Verise war. Sie wird von allen Mitgliedern des Rats sehr respektiert. Wenn sie Euch unterstützt, wird Trochard klein beigeben müssen oder riskieren, dass er als der Feigling bloßgestellt wird, der er ist.”
Während der Ratssitzung hatte Rath sich ein Bild von Madame Verise machen können. Es war offensichtlich, dass sie feste Standpunkte vertrat, von denen sie auch nicht so leicht abweichen würde, dass sie aber neuen Ideen gegenüber grundsätzlich offen war. Rath konnte sich gut vorstellen, dass Maura einmal zu einer solchen weisen alten Dame heranreifen würde.
“Es war schlau von Madame Verise, die Befragung des Orakels vorzuschlagen”, sagte Idrygon. “Selbst Trochard wird sich an seinen Spruch halten müssen.”
Aber Idrygon und seine Anhänger auch. Rath spürte, wie sich ein leichter Schatten der Besorgnis über ihren Gastgeber legte.
Maura setzte nach einem guten Schluck Sythwein ihren Pokal nieder. “Wieso fingen alle so laut zu reden an, nachdem ich ihnen meinen Namen genannt hatte?”
“Wisst Ihr das nicht, Hoheit?” Wieso auch immer, die Bemerkung schien Idrygons Zuversicht wiederherzustellen. “Die Wooburys von Galene sind eine Familie von sehr edler Abstammung, Nachkommen von Königin Abrielle. Seit ihr Patriarch Brandel starb, leben sie sehr zurückgezogen. Er hatte großen Einfluss auf den Rat und war sehr geachtet.”
Einen Moment lang richtete Maura den Blick auf ihren Schoss und Rath spürte, wie sie um ihre Beherrschung kämpfen musste, als sie flüsterte: “Dann habe ich also tatsächlich eine Familie?”
“Möchtet Ihr gerne nach Galene gehen und Eure Verwandten treffen?”, fragte Idrygon. “Ich weiß nicht genau, in welcher verwandtschaftlichen Beziehung sie zu Euch stehen, aber ihre Unterstützung kann unsere Position dem Rat gegenüber nur stärken.”
“Das würde ich sehr gerne, danke”, erwiderte Maura. “Nachdem ich das Orakel getroffen habe.”
“Natürlich.” Wieder sah Idrygon unsicher aus.
Das Orakel. Bei einigen der Weisen hatte Rath ein ähnliches Zögern gespürt, als das Orakel von Margyle erwähnt wurde. Er fragte sich, was wohl dahintersteckte.
Zuvor, auf dem Festland, als es nur darum ging, irgendwie zu überleben, war er sich seiner sehr sicher gewesen. Hier auf der Insel fühlte Rath sich weit davon entfernt.
“Folgt diesem Weg. Er führt Euch zum Orakel.” Delyon deutete auf ein Spalier zwischen zwei hohen Hecken.
“Kommt Ihr nicht mit?”, fragte Maura. Die Aussicht, diese geheimnisvolle Frau zu treffen, deren Erinnerung bis tief in die Vergangenheit reichte und die ebenso Blicke in die Zukunft erhaschen konnte, ängstigte sie.
“Ich wünschte, ich könnte”, seufzte Delyon. “Die längste Zeit versuche ich schon, ein Treffen zu vereinbaren – um über meine Forschungen zu sprechen und herauszufinden, ob ich auf dem rechten Weg bin. Doch das Orakel zieht sich mehr und mehr zurück, sagt Madame Verise. Ich frage mich, wie der Rat es
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