Das Orakel von Port-nicolas
irritierender Gelenkigkeit. Da Louis die Bewegung beobachtete, steckte der Bürgermeister die Hand in die Tasche und bat ihn, Platz zu nehmen.
»Louis Kehlweiler? Was verschafft mir die Ehre?«
Michel Chevalier lächelte, aber nur schwach. Louis war das gewohnt. Der unerwartete Besuch eines inoffiziellen Gesandten aus dem Innenministerium verursachte bei den Mandatsträger nie ein Wohlgefühl, wer immer sie waren. Offensichtlich wußte Chevalier nicht über seinen Rauswurf Bescheid, oder der Rauswurf reichte nicht aus, ihn zu beruhigen.
»Nichts, was Ihnen Sorgen machen könnte.«
»Ich will Ihnen gerne glauben. In Port-Nicolas würde man keine Nadel verstecken können. Es ist zu klein.«
Der Bürgermeister seufzte. Er dürfte sich in diesem Rathaus ziemlich im Kreis drehen. Nichts zu verbergen und nicht viel auszurichten.
»Also?« fragte der Bürgermeister weiter.
»Port-Nicolas mag klein sein, aber es schwärmt aus. Ich bin gekommen, um Ihnen etwas zu bringen, was zum Ort gehören könnte, etwas, was ich in Paris gefunden habe.«
Chevalier hatte große blaue Augen, die er nicht zukneifen konnte, was er aber wollte.
»Ich zeige es Ihnen«, sagte Louis.
Er griff mit der Hand in die Jackentasche und stieß auf die warzige Haut Bufos, die dort pennte. Verdammt, er hatte sie heute morgen auf seinen Spaziergang zum Kalvarienberg mitgenommen und vergessen, sie bei seiner Rückkehr im Hotelzimmer abzusetzen. Es war jetzt bestimmt nicht der Augenblick, Bufo herauszuholen, denn das eingesunkene Gesicht des Bürgermeisters schien ein wenig sorgenvoll. Er fand das zusammengeknüllte Zeitungspapier unter dem Bauch von Bufo, die gegenüber Beweismitteln keinen Respekt bekundete und es sich darauf bequem gemacht hatte.
»Es ist dieses kleine Etwas«, sagte Louis und legte endlich das empfindliche Stückchen Knochen auf Chevaliers Holztisch. »Es beunruhigt mich so, daß es mich bis zu Ihnen getrieben hat. Und ich hoffe, daß ich mich umsonst beunruhigt habe.«
Der Bürgermeister beugte sich vor, sah sich das Etwas an und schüttelte langsam den Kopf. Was für ein geduldiger Typ, sagte sich Louis, verformbar und bewegt sich wie in Zeitlupe, nichts scheint ihn zu erschüttern, und trotz seiner großen Augen sieht er nicht wie ein Idiot aus.
»Es ist ein menschlicher Knochen«, fuhr Louis fort. »Das letzte Glied eines Zehs, den ich unglücklicherweise auf der Place de la Contrescarpe in Paris auf einem Baumgitter gefunden habe und der sich, entschuldigen Sie, Herr Bürgermeister, in einem Haufen Hundekot befand.«
»Durchsuchen Sie Hundekot?« fragte Chevalier bedächtig und ohne jede Ironie.
»Ein sintflutartiger Regen ist über Paris niedergegangen. Die organischen Bestandteile sind abgewaschen worden, der Knochen ist auf dem Baumgitter zurückgeblieben.«
»Ich verstehe. Und der Zusammenhang mit meiner Gemeinde?«
»Die Sache erschien mir ungewöhnlich und unangenehm, ich habe mich also damit beschäftigt. Einen Unfall kann man nicht ausschließen oder, wenn man den Zufall auf die Spitze treiben wollte, auch nicht das bedauerliche Auftauchen eines Hundes bei einer Totenwache. Aber ebensowenig kann man die abwegig erscheinende Möglichkeit eines Mordes ausschließen.«
Chevalier rührte sich nicht. Er hörte zu und widersprach nicht.
»Und meine Gemeinde?« wiederholte er.
»Dazu komme ich jetzt. Ich habe in Paris abgewartet. Aber es ist nichts geschehen. Sie wissen, daß man eine Leiche in der Hauptstadt nicht lange verbergen kann. Auch in der Banlieue ist nichts geschehen, und seit nunmehr zwölf Tagen keine Vermißtenmeldung. Ich habe also die Bewegungen der Wanderhunde überprüft, jener Hunde, die an einem Ort fressen und an einem anderen ausscheiden, und bin auf zwei gestoßen. Von den beiden habe ich mich für die Fährte des Pitbulls von Lionel Sevran entschieden.«
»Fahren Sie fort«, sagte der Bürgermeister.
Er blieb schlaff, aber seine Konzentration nahm kontinuierlich zu. Louis setzte sich, legte einen Ellbogen auf den Tisch, das Kinn auf die Faust gestützt, die andere Hand noch immer in seiner Tasche, weil diese verdammte Kröte nicht wieder einschlafen wollte und sich bewegte.
»In Port-Nicolas«, sagte er, »hat es einen Unfall auf dem Strand gegeben.«
»Da wären wir also.«
»Ja. Ich bin hergekommen, um mich zu vergewissern, daß es sich dabei um einen Unfall gehandelt hat.«
»Ja«, unterbrach Chevalier. »Ein Unfall. Die alte Dame ist auf den Felsen ausgerutscht und hat sich den
Weitere Kostenlose Bücher