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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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rascher Gedanke, wie er weiter vorgehen sollte, aber nein, man hatte es ihm gesagt, wenn man das Unglück hatte, den Deutschen im Sessel zu haben, war es sinnlos, ihn rauszusetzen. Er stieß einen Seufzer aus und ging in sein Arbeitszimmer.
    »Schenken Sie doch zu trinken ein, fühlen Sie sich wie zu Hause«, knurrte er.
    Louis lächelte und füllte die Gläser. Chevalier kam hüpfenden Schrittes zurück und hielt ihm den Gezeitenkalender hin.
    »Danke, aber ich habe ihn schon gelesen. Er ist für Sie.«
    »Die Gezeiten kenne ich auswendig.«
    »Ach so? Und wenn Sie sie kennen, springt Ihnen überhaupt nichts ins Auge?«
    »Nein, nichts springt mir, machen Sie schnell, ich bin müde.«
    »Aber hören Sie mal, Chevalier, können Sie sich vorstellen, wie ein Hund, oder auch eine Möwe einer Leiche den Stiefel auszieht, um den Zeh zu fressen? Warum hat der Pitbull nicht eher die Hand oder ein Ohr abgebissen?«
    »Sie haben doch die Berichte gelesen, verdammt und zugenäht! Marie hatte keine Stiefel mehr an, sie war barfuß! Der Hund hat sich durch Zufall über den Fuß hergemacht! Natürlich hat er den Stiefel nicht ausgezogen, Sie halten mich wirklich für blöd …«
    »Ich halte Sie nicht für blöd. Deshalb frage ich Sie: Wenn der Hund die barfüßige Marie angegriffen hat, und wenn es nicht der Hund war, der ihr die Stiefel ausgezogen hat, wer dann?«
    »Das Meer, verdammt noch mal, das Meer! Noch einmal: Das steht im Bericht! Unter uns gesagt, Sie vergessen alles, Kehlweiler!«
    »Nicht das Meer, sondern die Flut, bleiben wir genau.«
    »Die Flut, das ist das gleiche.«
    »Um wieviel Uhr war an diesem Abend Flut?«
    »Gegen ein Uhr morgens.«
    Diesmal schreckte Chevalier auf. Kein richtiges Aufschrecken, aber ein Zusammenzucken, während er sein Cognacglas auf den niedrigen Tisch stellte.
    »Da wären wir also«, sagte Louis und breitete die Arme aus. »Marie sind die Schuhe am Donnerstag abend nicht von der Flut ausgezogen worden, weil das Meer zurückging und erst sieben Stunden später wieder zu ihr kam. Nun hat der Pitbull seinen Knochen aber vor ein Uhr morgens in Paris ausgeschieden.«
    »Ich versteh nichts mehr. Soll der Hund am Stiefel gezogen haben? Das ergibt doch keinen Sinn …«
    »Um mein Gewissen zu beruhigen, habe ich darum gebeten, den Stiefel zu sehen, den sie noch in Fouesnant hatten. Man hat Glück gehabt, es ist der linke.«
    »Mit welchem Recht wurde er Ihnen gezeigt?« fragte Chevalier empört. »Seit wann breiten die Gendarmen ihr Material vor pensionierten Zivilpersonen aus?«
    »Ich kenne einen Freund des Hauptmanns von Fouesnant.«
    »Glückwunsch.«
    »Ich habe nur den Stiefel untersucht und das auch noch mit dem Mikroskop. Er weist keine Bißspuren auf, nicht einmal leichte Spuren der Zähne. Der Hund hat ihn nicht angerührt. Marie war bereits barfuß, als der Pitbull vor sechs Uhr gekommen ist.«
    »Dafür läßt sich eine Erklärung finden … Also … Sie zieht ihren Stiefel aus, zum Beispiel, um ein Steinchen herauszuholen und … verliert das Gleichgewicht, fällt und zerschmettert sich den Schädel.«
    »Ich glaube nicht. Marie war eine alte Frau. Sie hätte sich auf einen Felsen gesetzt, um ihren Stiefel auszuziehen. In ihrem Alter macht man keine Akrobatik auf einem Fuß mehr … War sie agil, unternehmungslustig?«
    »Eher nicht … Sehr vorsichtig, zerbrechlich.«
    »Es war also nicht die Flut, es war nicht Marie, es war nicht der Pitbull.«
    »Was dann?«
    »Wer, meinen Sie?«
    »Wer?«
    »Chevalier, jemand hat Marie getötet, und darum werden Sie sich kümmern müssen.«
    »Wie sehen Sie die Sache?« fragte der Bürgermeister nach kurzem Schweigen leise.
    »Ich habe mir die Stelle angesehen. Gegen fünf oder sechs Uhr abends wird es dämmerig, aber es ist noch nicht richtig dunkle Nacht. Wenn man Marie töten will, ist der Uferstreifen nicht der geeignetste Ort, er ist zu offen, auch wenn er in dieser Jahreszeit verlassen ist. Stellen Sie sich vor, daß man sie im Kiefernwäldchen hinter dem Uferstreifen oder in der Vauban-Hütte, die oberhalb liegt, durch einen Schlag mit einem Stein auf die Stirn umbringt und sie dann über den steilen Pfad, der bis zu den Felsen führt, hinunterbringt. Der Mörder lädt sich die alte Marie über die Schulter, sie war nicht schwer.«
    »Ein Fliegengewicht … Fahren Sie fort.«
    »Über die Schulter, bis zum Strandstreifen, wo er sie mit dem Gesicht gegen die Felsen ablegt. Ist es nicht wahrscheinlich, daß einer der zu großen Stiefel

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