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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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beim Abstieg zu Boden fällt?«
    »Doch.«
    »Der Mörder bemerkt den Verlust des Stiefels, als er die Leiche ablegt. Er muß ihn unbedingt wiederfinden, damit man auf einen Unfall schließen kann. Er konnte nicht wissen, daß das Meer ihr die Stiefel erneut ausziehen würde. Er geht den Pfad hinauf bis zur Hütte oder bis in das Wäldchen und sucht bei einbrechender Dunkelheit. Es ist voller Dornen und Stechginster, und weiter hinten voller Kiefernnadeln. Nehmen wir an, daß er, oder sie, bestenfalls vier Minuten braucht, um den Pfad hinaufzusteigen, vier Minuten, um den Stiefel zu finden, der schwarz ist, und drei Minuten, um wieder hinunterzulaufen. Das macht elf Minuten, während derer Sevrans Hund, der auf dem Strandstreifen herumstreunt, ausreichend Zeit hat, einen Zeh abzubeißen. Sie kennen seine Fangzähne, eine üble, mächtige Waffe. In der einbrechenden Dunkelheit zieht der rasch agierende Mörder der Toten ihren Stiefel wieder an, ohne die Amputation zu bemerken. Schenken Sie uns noch einen Cognac ein.«
    Schweigend gehorchte Chevalier.
    »Wenn Marie sofort und somit gestiefelt gefunden worden wäre, hätte man die Amputation bemerkt, sobald man ihr für die Untersuchung die Schuhe ausgezogen hätte und der Mord wäre offensichtlich gewesen. Eine Tote kümmert sich nicht darum, ihren Stiefel wieder anzuziehen, nachdem man ihren Fuß angefressen hat …«
    »Fahren Sie fort.«
    »Aber – zum Glück für den Mörder – nimmt die Flut Marie die Stiefel weg, spült einen auf den Kies und nimmt den anderen mit Richtung Amerika. Sie wird also barfuß und amputiert gefunden, aber da sind ja die Möwen, wunderbar geeignet, die Sache mehr schlecht als recht zu erklären. Nur …«
    »Nur ist der Hund von Sevran dort vorbeigekommen und hat … hat den Knochen am selben Abend, noch vor der steigenden Flut, in Paris ausgeschieden.«
    »Ich hätte es nicht besser formulieren können.«
    »Also nichts zu machen, sie ist umgebracht worden … Man hat Marie umgebracht … Aber Sevran hat seinen Hund gegen sechs Uhr wie gewöhnlich mitgenommen …«
    »Der Hund hatte die Zeit, Marie vor sechs Uhr zu finden. Sevran muß gefragt werden, ob der Hund vor der Abfahrt noch herumgestreunt ist.«
    »Ja … natürlich.«
    »Es gibt keine andere Wahl mehr, Chevalier. Man muß gleich morgen Quimper Bescheid geben. Es ist ein Mord, und zwar ein vorsätzlicher, sei es, daß jemand Marie bis an den Strand gefolgt ist, sei es, daß man sie dorthin gebracht hat, um den Unfall glaubwürdig erscheinen zu lassen.«
    »Also Sevran? Der Ingenieur? Unmöglich. Er ist ein liebenswürdiger Kerl, begabt, herzlich, Marie war seit Jahren bei ihnen.«
    »Ich habe nicht Sevran gesagt. Sein Hund ist frei. Sevran und der Pitbull sind nicht dasselbe. Alle kannten Maries Angelecke, Sie haben es selbst gesagt.«
    Chevalier nickte und rieb sich seine großen Augen.
    »Gehen wir schlafen«, sagte Louis. »Heute abend können wir nichts mehr machen. Sie werden Ihren Bürgern Bescheid geben müssen. Und wenn einer von ihnen etwas zu sagen hat, soll er es diskret tun. Ein Mörder kann ein zweites Mal zuschlagen.«
    »Ein Mörder … das hat gerade noch gefehlt. Abgesehen von dem Einbruch, den ich am Hals habe.«
    »Ah so?« machte Louis.
    »Ja, ausgerechnet im Keller des Ingenieurs, da, wo er seine Maschinen aufbewahrt. Die Tür wurde vergangene Nacht aufgebrochen. Sie wissen vielleicht, daß er ein Experte ist, man kommt von weit her, um ihn um Rat zu fragen, und seine Maschinen sind sehr wertvoll.«
    »Hat es Schaden gegeben?«
    »Nein, merkwürdigerweise nicht. Ein einfacher Besuch, wie es scheint. Aber unerfreulich ist es doch.«
    »Sehr.«
    Louis verspürte keinen Drang, sich über dieses Thema auszulassen, und verließ den Bürgermeister. Während er durch die dunklen Straßen ging, spürte er die Wirkung des Cognacs. Er konnte sich nicht fest auf sein linkes Bein stützen, um das rechte nachkommen zu lassen. Unter einem Baum blieb er stehen, gebeutelt von dem plötzlich aufkommenden Westwind. Manchmal entmutigte ihn dieses zerquetschte Knie geradezu. Er hatte immer gedacht, Pauline sei gegangen, weil sein Knie hin war. Ein halbes Jahr nach dem Unfall hatte sie sich entschlossen. In wenigen Sekunden sah Louis wieder diesen heftigen Brand in Antibes vor sich, bei dem sein Kniegelenk zerborsten war. Er hatte die Kerle nach einer Treibjagd von fast zwei Jahren in die Enge getrieben, sein Knie dabei aber mit zerquetscht. Um ihn zu ermutigen, sagte Marthe,

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