Das Orakel von Port-nicolas
Bürgermeister breitete die Arme aus, dann knickte er seine Finger.
»Meine Güte, ich war erst seit elf da! Ich hatte noch keine Zeit, die Post durchzusehen, ich habe nichts Dringendes erwartet. Dafür trat das Wasser im Entlastungskanal von Penfoul über die Ufer, und ich wollte mich drum kümmern, bevor ich alle Einwohner am Hals habe. Eine Falle, dieser Kanal, ich hätte ihn nicht bauen lassen dürfen, und, verdammt, bitte stürzen Sie sich da nicht hinein!«
»Keine Sorgen, ich bin hinter etwas anderem her als einem überschwemmten Kanal. Aber ich glaube doch verstanden zu haben, daß Ihre Sprechstunde um neun anfängt?«
»Meine Sprechstunde halte ich im Café, beim Aperitif, und das wissen alle. Glauben Sie, ich hätte den Bericht gelesen und Ihnen nichts davon gesagt? O nein, Kehlweiler! Um zehn habe ich geschlafen, ob Ihnen das gefällt oder nicht. Ich stehe nicht gern auf«, fügte der Bürgermeister stirnrunzelnd hinzu.
Louis beugte sich vor und legte seinen Zeigefinger auf Chevaliers Arm.
»Ich habe auch geschlafen.«
Der Bürgermeister holte zwei Gläser und schenkte Cognac ein. Die morgendliche Schläfrigkeit von Louis hatte diesen in seinem Ansehen steigen lassen.
»Schlimmer noch«, fügte Louis hinzu. »Ich halte Mittagsschlaf. Im Ministerium habe ich die Tür abgeschlossen, mich auf den Boden gelegt, den Kopf auf einem dicken Strafrechtswälzer. Eine halbe Stunde. Manchmal habe ich das Buch auf dem Boden vergessen, niemand hat je erfahren, warum ich das Gesetz auf dem Teppich gelesen habe.«
»Also?« fragte der Bürgermeister. »Was ist mit diesem zweiten Bericht?«
»Wie Sie wissen, haben die Gendarmen Sonntag die erste Tatbestandsaufnahme durchgeführt. Die Leiche war von fünf aufeinanderfolgenden Fluten umgewälzt worden, sie war verunstaltet und voller Schlick und Tang. Die Stelle, an der der Schädel eingeschlagen worden war, war deutlich sichtbar, die Verletzung am Fuß nicht. Und doch war Marie Lacasta barfuß. Anscheinend trug sie immer niedrige Gummistiefel, welche von ihrem Mann, die ihr zu groß waren.«
»Ganz richtig. Sie zog sie über die bloßen Füße, wenn sie zum Schneckensammeln ging.«
»Anscheinend haben die Wellen ihr die Stiefel ausgezogen.«
»Ja, barfuß, das stand in dem ersten Bericht … Einen der Stiefel hat man zehn Meter weiter auf den Felsen gefunden.«
»Und den anderen?«
»Der andere ist weg. Der dürfte gerade auf dem Weg nach New York sein.«
»Bei seiner ersten Untersuchung, die spät in der Nacht durchgeführt wurde, hat sich der praktische Arzt von Fouesnant um den Kopf mit den deutlich sichtbaren Brüchen gekümmert, der schlickverschmierte Fuß hat ihn dabei nicht beschäftigt. Es hat nicht mehr geblutet, die Wunde war vom Meer ausgewaschen worden. Der Arzt hat rasch seine Diagnose gestellt, eine richtige Diagnose übrigens, Tod durch Einschlagen der Hirnschale, zertrümmerter Stirnknochen, Schlag gegen einen Felsen. Das ist der vorläufige Bericht, der Ihnen zugegangen ist. Der Gerichtsmediziner kam erst am nächsten Tag, er war Sonntag abend in Quimper bei einem Verkehrsunfall. Erst der Gerichtsmediziner hat den fehlenden Zeh entdeckt. Seine Schlußfolgerungen zu dem Schlag auf den Kopf sind dieselben wie die seines Kollegen. Was den Fuß angeht, so schreibt er …«
Louis kramte in seiner Hosentasche und zog ein zerknittertes Stück Papier hervor.
»Ich fasse zusammen … Fehlendes Zehenglied II von Zeh I des linken Fußes. Der Zeh wurde nicht abgeschnitten, sondern herausgerissen. Der Gerichtsmediziner schließt daher einen menschlichen Eingriff aus. Angesichts der Umstände vermutet er, daß eine Möwe vorbeigekommen ist. Also Tod durch Unfall und Aasfraß durch ein Tier. Der Todeszeitpunkt kann nicht genau bestimmt werden, spätestens Freitag vormittag. Marie wurde Donnerstag gegen vier Uhr noch gesehen, sie ist also zwischen Donnerstag halb fünf und Freitag mittag gestorben. Ging Marie im Morgengrauen Strandschnecken sammeln?«
»Das kam vor. Sie hatte von Freitag bis Montag frei. Aber der Gerichtsmediziner hat auf Unfalltod geschlossen, trotz dieses gräßlichen Details mit dem Fuß. Wo führt Sie das also hin? Die Hypothese mit der Möwe ist ein bißchen zweifelhaft, aber warum nicht? Es gibt sie dort zu Tausenden, wild, schreiend, eine wahre Plage.«
»Chevalier, Sie vergessen, daß ich den Knochen nicht im Bauch einer Möwe gefunden habe.«
»Ja, ich vergaß.«
Louis machte es sich in dem Sessel bequem, sein steifes Bein
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