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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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übriggeblieben war, schnell verlassen, um über den Uferstreifen zu laufen. Die Nacht brach eine halbe Stunde später herein als in der Hauptstadt, er rutschte auf den glitschigen Felsblöcken aus und fiel hin. Die Flut kam, Marc folgte ruhig, zufrieden dem schmalen Ufer, während ihm das Wasser von den Haaren in den Nacken rann. Wäre er nicht Mediävist gewesen, wäre er vielleicht Seemann gewesen. Aber die Schiffe von heute machten ihm keine Lust, an Bord zu gehen. Noch schlimmer die U-Boote. Er hatte die Espadon besichtigt, die in den Gewässern von Saint-Nazaire unter Wasser lag, ein schwerer Fehler, denn im Torpedoraum war ihm der Angstschweiß ausgebrochen. Gut, also Seemann von früher. Auch wenn die schweren Walfangschiffe oder Kanonenboote ihn kaum begeisterten. Also ein noch früherer Seemann, zum Beispiel gegen Ende des 15. Jahrhunderts, der zu einem bestimmten Kontinent aufbricht, sich im Weg täuscht und bei einem anderen ankommt. Selbst als Seemann fand er sich im Grunde wieder ins Mittelalter zurückgeworfen, man entgeht seiner Sache nicht. Diese Schlußfolgerung verdroß Marc. Er mochte es nicht, sich eingesperrt, in die Enge getrieben oder vorherbestimmt zu finden, und sei es durch das Mittelalter. Zehn Jahrhunderte können ebenso eng sein wie zehn Quadratmeter Zelle. Das mußte der andere Grund sein, der ihn hierhergeführt hatte, wo die Erde endet, ans Finis Terrae, ans Ende des Endes, ins Finistère.

16
    Louis störte den Bürgermeister spät am Abend zu Hause.
    Auf der Türschwelle betrachtete Chevalier ihn mit seinen großen blauen Augen, während er geräuschlos seine schmalen, abgespannten Lippen bewegte. Er sah so aus, als sage er sich müde »Mist«.
    »Chevalier, ich muß Sie noch mal sprechen.«
    Kehlweiler vor die Tür setzen? Sinnlos, er würde morgen wiederkommen, das wußte er. Er bat ihn einzutreten, sagte, daß seine Frau bereits schlafen gegangen sei, warum auch immer, und Louis nahm in dem Sessel Platz, der ihm schweigend gezeigt wurde. Der Sessel war ebenso schlaff wie sein Besitzer, genau wie auch der Hund, der auf dem Boden lag. Da zumindest stimmte die Regel. Es war ein großer Bulldoggen-Rüde, der müde war vom Bulldoggen-Weibchen-Hinterherrennen und die Ansicht vertrat, es reiche jetzt mit der Hundepflicht, man möge bitteschön nicht mit ihm rechnen, um zu bellen, nur weil ein Unbekannter das Haus betrat.
    »Sie haben da ein Tier, das zu leben versteht«, sagte Louis.
    »Wenn es Sie interessiert«, erwiderte Chevalier und drückte sich ins Sofa, »er hat noch nie jemanden gebissen und auch noch keinen Fuß gefressen.«
    »Nie gebissen?«
    »Ein, zwei Mal, als er jung war, und weil man ihn gereizt hat«, gab Chevalier zu.
    »Natürlich«, sagte Louis.
    »Zigarette?«
    »Ja, bitte.«
    Die beiden Männer schwiegen einen Augenblick. Keine Feindseligkeit zwischen ihnen, bemerkte Louis, eine Art abgesprochenes Einverständnis, Resignation, gegenseitige Hinnahme. Der Bürgermeister war kein Typ, mit dem der Umgang unangenehm gewesen wäre, sehr beruhigend, hätte Vandoosler der Jüngere gesagt. Chevalier wartete, bis der andere redete, er war keiner, der vorpreschte.
    »Ich war bei der Gendarmerie von Fouesnant«, sagte Louis. »Marie Lacasta ist gestorben, weil sie mit der Stirn auf die Felsen geschlagen ist.«
    »Ja, das haben wir uns schon gesagt.«
    »Trotzdem fehlt ihr das letzte Zehenglied des großen Zehs am linken Fuß.«
    Chevalier schreckte nicht auf, er klopfte auf seine Zigarette und sagte Mist, dieses Mal sagte er es wirklich.
    »Unmöglich …«, murmelte er. »Das steht nicht in dem Bericht. Was ist das für eine Geschichte?«
    »Ich bin untröstlich, Chevalier, es steht im Bericht. Nicht in dem, den Sie mir gezeigt haben, sondern in dem anderen, der hinterher kam, dem Bericht des Gerichtsmediziners vom Montag, von dem Ihnen Dienstag mit dem Vermerk ›persönlich‹ eine Kopie mit der Post zugesandt wurde. Ich habe keinen offiziellen Auftrag, ich weiß, aber warum haben Sie mir davon nichts erzählt?«
    »Weil ich diesen Bericht nicht bekommen habe! Einen Augenblick, lassen Sie mich nachdenken … Er kann Mittwoch gekommen sein, oder Donnerstag. Mittwoch war ich bei der Beerdigung von Marie Lacasta, dann bin ich nach Paris. Eine Sitzung nach der anderen im Senat, bis Samstag. Sonntag bin ich zurückgekommen, und heute morgen im Rathaus …«
    »Haben Sie die Post der letzten Woche nicht aufgemacht? Als ich zu Ihnen gekommen bin, war es schon fast Mittag.«
    Der

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