Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
geht’s?«
    »Was hattest du gesagt, was du kannst? Abgesehen natürlich von deinem verdammten Mittelalter?«
    »Was ich kann? Davon abgesehen?«
    Marc dachte kurz nach. Er fand die Frage nicht einfach.
    »Klettern«, antwortete er.
    Louis richtete sich mit einer einzigen Bewegung auf dem Bett auf.
    »Dann nichts wie los. Schau.«
    Er zog Marc zum Zimmerfenster.
    »Siehst du das Haus da gegenüber? Das ist das Rathaus. Das Toilettenfenster, dort auf der linken Seite, ist offengeblieben. Es gibt ein Regenrohr, gute Fugen zwischen den Steinen, alles, was man braucht. Es ist nicht leicht, aber für einen Mann wie dich wird es kinderleicht sein, wenn du mich nicht angelogen hast. Dich schickt der Westwind, junger Vandoosler. Aber ich muß dir andere Schuhe geben. Du wirst nicht in Lederstiefeln klettern können.«
    »Ich bin immer in Stiefeln geklettert«, sagte Marc empört. »Und ich werde keine anderen Schuhe anziehen.«
    »Und warum?«
    »Es stärkt mich, es stabilisiert mich, wenn du es genau wissen willst.«
    »Verstanden«, erwiderte Louis. »Jedem seine Krücken, und außerdem kletterst ja schließlich du.«
    »Was mach ich, wenn ich drin bin? Pinkeln und wieder gehen?«
    »Setz dich hin, ich erklär’s dir.«
    Zwanzig Minuten später schlich sich Marc am Rathaus entlang und enterte es von der linken Seite. Er lächelte beim Klettern und klemmte die Spitzen seiner Stiefel in die Fugen zwischen den Steinen. Fuge auf Fuge – er kam schnell voran, wobei er mit einer Hand das rauhe Regenrohr zu Hilfe nahm. Marc hatte breite, sehr kräftige Hände, und heute abend vermittelte ihm die Beweglichkeit seines zu schmalen Körpers, den er aber ohne Anstrengung fortbewegte, eine tiefe Befriedigung.
    Louis beobachtete ihn vom Fenster seines Zimmers aus. Marc war schwarz gekleidet und im Schatten des Rathauses kaum zu erkennen. Louis sah, wie er sich auf Höhe des Fensters hinaufschwang, sich hineinzog und verschwand. Louis rieb sich die Hände und wartete ohne Sorge. Im Falle von Schwierigkeiten würde Marc sich zu helfen wissen. Er kannte sich aus mit Männern, wie Marthe sagen würde, und Vandoosler der Jüngere war mit seiner Zerbrechlichkeit, seiner exzessiven Offenheit, seiner unterschiedlich starken Erregbarkeit, seinem Wissen einer alten Historikernervensäge, seiner kindlichen Neugier, seiner Hartnäckigkeit eines denkenden Schilfrohrs – und all das sehr durcheinander – jemand, der’s wert war. Louis hatte aufrichtige Erleichterung verspürt, als er den Mediävisten plötzlich im Gang des Hotels hatte stehen sehen, und er war durchaus nicht verwundert gewesen. In gewisser Weise hatte er ihn erwartet, sie hatten das zusammen angefangen, und das wußte Marc ebensogut wie er. Aus Gründen, die von den seinen sehr verschieden waren, führte Marc Vandoosler immer zu Ende, was er begonnen hatte.
    Zwanzig Minuten später sah er ihn, wie er sich aus dem Fenster hievte, ohne Eile die Fassade hinunterkletterte, am Boden ankam und mit langen Schritten den Platz überquerte. Louis öffnete die Tür, und zwei Minuten später trat Marc schweigend ein, ging in das kleine Badezimmer und trank einen Schluck Wasser.
    »Scheiße«, sagte er, als er wieder rauskam. »Du hast deine Kröte ins Bad gesetzt.«
    »Sie hat sich das ausgesucht. Sie scheint sich unter dem Waschbecken wohlzufühlen.«
    Marc rieb seine vom Klettern verdreckte Leinenhose ab und richtete seinen Silbergürtel. Karg und protzig, hatte Vandoosler der Ältere gesagt, um ihn zu beschreiben, und das stimmte.
    »Stört’s dich nicht, immer in der engen Hose zu stecken?«
    »Nein«, erwiderte Marc.
    »Na, um so besser. Erzähl.«
    »Du hattest recht, die Toiletten gehen auf das Arbeitszimmer des Bürgermeisters. Ich habe im Postverteiler gekramt. Der große Umschlag der Gendarmerie von Fouesnant lag da, mit dem Vermerk ›persönlich‹. Aber er war offen, Louis. Ich hab nachgesehen. Es ist, wie du gesagt hast, es ist der zweite Bericht, mit allen Einzelheiten über den fehlenden Zeh.«
    »Aha!« sagte Louis. »Also hat er gelogen. Glaub es oder nicht, er ist ein Mensch, der lügt, ohne daß man’s sieht. Er ist wie die blasige Oberfläche eines Weihers, du kannst die Fische darunter nicht erkennen. Unbestimmte Bewegungen, wandernde Schatten, das ist alles.«
    »Ein sauberer Weiher oder ein dreckiger?«
    »Also das …«
    »Warum hat er gelogen? Kannst du dir den Volksvertreter vorstellen, wie er die Alte erschlägt?«
    »Man kann sich alles mögliche vorstellen,

Weitere Kostenlose Bücher