Das Orakel von Port-nicolas
wir kennen ja niemanden hier. Es kann ganz einfache Gründe für seine Lüge geben. Denk dran, daß er nicht an eine Verbindung zwischen dem fehlenden Zeh und einem Mord gedacht hat, da er ja nicht auf die Idee kommen konnte, daß der Zeh bis zur Contrescarpe gelangt ist und ich den Hundehaufen vor der Flut entdecken würde. Klar?«
»Klar. Mach nicht so schnell, das regt mich auf.«
»Willst du, daß ich sehr langsam rede?«
»Nein, das regt mich auch auf.«
»Was regt dich denn nicht auf?«
»Keine Ahnung.«
»Dann sieh, wie du zurechtkommst. Alles, was der Bürgermeister heute morgen weiß, ist, daß eine seiner Bürgerinnen auf den Felsen zu Tode gekommen ist und daß die Möwen ihr offenbar einen Zeh geklaut haben. Bedenke, daß er dieses Detail nicht der Presse mitteilt, und warum? Die Bretagne lebt vom Tourismus, und Port-Nicolas ist ein armer Flecken, du hast es bestimmt gesehen. Er hat nicht das geringste Interesse, Werbung für die fiesen Möwen in seiner Gemeinde zu machen. Dazu kommt noch, daß …«
»Ich habe Durst. Ich habe Wasserdurst.«
»Du bist nervig. Geh doch trinken, dafür mußt du mich doch nicht um Erlaubnis fragen.«
»Und wenn deine Kröte mich anfällt? Ich habe vorhin gesehen, wie sie sich bewegt hat.«
»Du brichst fürstlich in ein Rathaus ein und hast Angst vor Bufo?«
»Ganz genau.«
Louis stand auf und füllte ein Glas Wasser am Waschbecken.
»Dazu kommt noch«, fuhr er fort und reichte Marc das Glas, »daß ein Typ in seinem Büro aufkreuzt und den fehlenden Zeh der alten Marie vor ihm auspackt. Nicht der Zeh irritiert ihn, auch wenn er ihn beschäftigt, sondern dieser Typ. Kein einziger Volksvertreter, schon gar kein Senator, so korrekt er sein mag, hat mich gern in seiner Umgebung. Diese Typen haben Freunde, Freunde von Freunden, Übereinkünfte, Pakte, und sie ziehen es vor, ›dem Deutschen‹ nicht begegnen zu müssen. Das hat er mir mit Blasen aus der Tiefe seines Weihers mitgeteilt.«
Louis verzog das Gesicht.
»Hat er dich so genannt?« fragte Marc. »Kennt er dich?«
»Dem Spitznamen nach, ja. Ich will ein Bier, und du?«
»Einverstanden«, erwiderte Marc, der bemerkt hatte, daß Louis in regelmäßigen Abständen, keinen Widerspruch duldend, »Ich will ein Bier« sagte.
»Kurz, Chevalier hat womöglich gelogen, um zu verhindern, daß ich mich hier im Hafen festsetze«, sagte Louis, während er zwei Flaschen aufmachte.
»Danke. Womöglich hat er auch die Post aufgemacht, sie aber nicht gelesen. Man macht auf, wirft einen vorsichtigen Blick hinein, man guckt später danach und nimmt sich das nächste vor. Ich jedenfalls mach das so. Die Blätter waren nicht verknittert.«
»Möglich.«
»Was machen wir jetzt?«
»Morgen werden die Bullen hiersein, sie werden die Ermittlungen aufnehmen.«
»Also ist die Sache geregelt, wir fahren zurück. Wie es weitergeht, lesen wir in den Zeitungen.«
Louis antwortete nicht.
»Was ist?« fragte Marc. »Wir werden doch nicht hierbleiben und ihnen bei der Arbeit zusehen? Wir überwachen doch wohl nicht alle Ermittlungen im gesamten Land? Du hast dein Ziel erreicht, wunderbar, die Ermittlungen werden aufgenommen. Was hält dich noch?«
»Eine Frau, die ich hier kenne.«
»Ach, verdammt«, sagte Marc und breitete die Arme aus.
»Genau das. Ich sag nur noch hallo, und wir fahren.«
»Hallo sagen … Und danach weiß man nicht mehr, wo es aufhört, rechne nicht damit, daß ich auf dich warte, und außerdem auch noch ganz allein auf dich warte, wie ein Einfaltspinsel, der niemanden hat, dem er hallo sagen kann. Nein, danke.«
Marc nahm ein paar tiefe Schlucke aus der Flasche.
»Interessiert dich diese Frau sehr?« fragte er dann. »Was hat sie dir getan?«
»Das geht dich nichts an.«
»Alle Frauengeschichten gehen mich etwas an, besser, du weißt das. Ich beobachte die anderen, das trainiert mich.«
»Es gibt nichts zu trainieren. Sie ist gegangen, nachdem ich mir das Bein zerfetzt habe, und jetzt finde ich sie hier wieder, an der Seite eines dicken Gatten, der in der Thalassotherapie plantscht. Das will ich mir ansehen. Ich will hallo sagen.«
»Und was noch? Hallo sagen, mit ihr reden, sie dir zurückholen? Den Gatten im Schlammbad versenken? Weißt du, daß so was überhaupt nicht funktioniert? Man kommt daher wie ein Feudalherr aus den tiefsten Tiefen der Erinnerung und läßt sich wie ein armer Bauer ins finsterste Verlies des Alltags werfen.«
Louis zuckte mit den Schultern.
»Ich habe gesagt, daß ich
Weitere Kostenlose Bücher